Jonas Fränkels Nachlass ist äusserst wichtig für die Geschichte der Schweizer Literatur und der Germanistik des 19. sowie 20. Jahrhunderts. Ein gutes halbes Jahrhundert nach seinem Tod übernimmt das Schweizerische Literaturarchiv den Nachlass von Jonas Fränkel (1879-1965).
Das bewegte Leben dieses jüdischen Gelehrten ist mit einem hellen und einem dunklen Kapitel der Schweizer Geschichte verbunden: Dank ihm wurde Carl Spittelers Werk stark gefördert und für den Nobelpreis empfohlen. Doch Fränkel litt auch zeit seines Lebens unter persönlicher und professioneller Ausgrenzung und antisemitischen Tendenzen in Presse, Politik, Justiz, Wirtschaft und Wissenschaft. Der Nachlass umfasst zahlreiche Manuskripte Spittelers, die ihm der Dichter überlassen hat, bedeutende literarische Korrespondenzen und wichtige Dokumente zu Fränkels editorischen und publizistischen Arbeiten.
Der Literaturwissenschaftler Jonas Fränkel trat als Herausgeber von Werken und Briefen deutscher und schweizerischer Schriftsteller hervor. Doch zwei Streitfälle prägten seine Karriere und führten dazu, dass dieser wichtige Nachlass nun erst ein halbes Jahrhundert nach Fränkels Tod im Jahr 1965 ans Schweizerische Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek kommt.
1879 in Krakau geboren, bereitete sich Fränkel zunächst auf eine Laufbahn als Rabbiner vor. 1898 begann er ein Studium an der Universität Wien; schwerhörig seit seiner Schulzeit, konnte er den Vorlesungen nicht folgen. Bessere Bedingungen fand er an der Universität Bern, wo er 1902 in der Literaturwissenschaft promovierte und 1921 auf Empfehlung des Schriftstellers Carl Spitteler zum ausserordentlichen Professor ernannt wurde.
Erster Streitfall: Carl Spitteler
Die beiden verband ab 1908 eine enge Freundschaft, die mit einer produktiven Zusammenarbeit einherging: Spitteler schickte Fränkel Textentwürfe, die dieser kommentierte, und er unterstützte Spitteler auch bei Übersetzungsfragen und Verlagsverhandlungen. Im Vorfeld der Verleihung des Literaturnobelpreises für das Jahr 1919 an Spitteler wirkte Fränkel im Hintergrund für ihn. Spitteler sah ihn denn auch als Nachlassverwalter, Herausgeber seiner gesammelten Werke und Verfasser seiner Biografie vor. Zu diesem Zweck überliess er Fränkel zahlreiche Materialien, darunter Werkmanuskripte zu Prometheus und zum Olympischen Frühling sowie teilweise illustrierte autobiografische Aufzeichnungen und diverse private Korrespondenzen.
Doch die Töchter Spittelers, beraten durch führende Schweizer Germanisten, hatten andere Pläne. Die Eidgenossenschaft, die den Spitteler-Nachlass 1933 als ersten literarischen Nachlass geschenkt erhielt, setzte auf dem Prozessweg die Vertragsbedingungen der Töchter Spittelers um, Fränkel vom Material fern- und vom Plan einer Gesamtausgabe abzuhalten. Die Streitigkeiten gipfelten in einer Polizeiaktion im Jahr 1948, die sich tief ins Familiengedächtnis eingeprägt hat. Sie war darauf angelegt, die Spitteler-Materialien aus Fränkels Besitz in die damalige Landesbibliothek und heutige Nationalbibliothek zu holen.
Zweiter Streitfall: Gottfried Keller
Die Spitteler-Streitigkeiten überschnitten sich mit einem zweiten Konflikt: 1926 erhielt Fränkel von der Zürcher Regierung den Auftrag einer ersten textkritischen Edition der Werke Gottfried Kellers. Als er 1939 in seiner Schrift Gottfried Kellers politische Sendung Zeitkritik am Nationalsozialismus übte, bangten die Verleger der Keller-Edition um den Absatz auf dem deutschen Markt. Nach einem Rechtsstreit wurde Fränkel 1942 die Edition entzogen und der Zugang zu den Archiven verwehrt – nach 17 erschienenen Bänden.
In Fränkels Marginalisierung schwang immer ein Antisemitismus mit, der in Verunglimpfungen in der Presse offensichtlich wurde. Er wurde als "Literaturjude" oder "hergewehter Asiate" diffamiert, der sich unverschämterweise an Schweizer Autoren von nationaler Bedeutung wage: "Ein Jude uns unsere grossen Dichter vermitteln! Merci vielmals!", war etwa 1912 in der Basler Zeitschrift "Der Samstag" zu lesen. Eine ordentliche Professur blieb Fränkel Zeit seines Lebens verwehrt. Erst in den 1950er-Jahren wurde seine Arbeit verschiedentlich geehrt, und 1961 wurde ihm vom Bundesrat mitgeteilt, dass ihm der Spitteler-Nachlass nun wieder offenstehe. 1965 starb er, ohne die Spitteler-Biografie fertiggestellt zu haben.
Spittelers Ankunft im Schweizerischen Literaturarchiv
Jonas Fränkels Nachlass ist äusserst wichtig für die Geschichte der Schweizer Literatur und der Germanistik des 19. sowie 20. Jahrhunderts und auf vielfache Weise mit der Eidgenossenschaft verschränkt. Der jüngste Sohn Fränkels hat das Material während zweier Generationen am Wohnort erhalten – jeder Zugang war jedoch bis 2019 verwehrt. Erst die Urenkelin Jonas Fränkels hat den Nachlass dem Schweizerischen Literaturarchiv angeboten und mit ihren Eltern die Verhandlungen geführt. Ende 2020 hat die Eidgenossenschaft, vertreten durch die Schweizerische Nationalbibliothek, eine Vereinbarung getroffen, indem der Nachlass Fränkels mit dem Kryptonachlass Spittelers teils als Schenkung, teils als Kauf übergeben wird. Offen ist die Frage der Gelehrtenbibliothek am Standort.
Der Fundus des Schweizerischen Literaturarchivs, das zahlreiche literarische Nachlässe, Archive und Autorenbibliotheken des 20. und 21. Jahrhunderts beherbergt, erfährt durch diese Übernahme eine Bereicherung: Der Spitteler-Teil allein ist noch einmal fast so umfangreich wie die Schenkung der Töchter aus den Dreissigern. Dazu kommen Werkmanuskripte Fränkels, Notizen und Zettelkästen sowie umfangreiches Dokumentationsmaterial zu seinen Editionsprojekten, biografisches Material wie Notizhefte und Tagebücher, Akten zu den juristischen und medialen Auseinandersetzungen rund um Spitteler und die Keller-Ausgabe und nicht zuletzt ausführliche Korrespondenzen. Zu Fränkels über die ganze Welt verteilten Briefpartnern gehörten Carl Albert Loosli, Romain Rolland, Werner Kraft, Rainer Maria Rilke oder Arthur Schnitzler, um nur einige bekannte Namen zu nennen. Die Dokumente werden nun erschlossen, in ihre Forschungskontexte eingebettet und für die Wissenschaft und die interessierte Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Das Schweizerische Literaturarchiv SLA ist eine Sektion der Schweizerischen Nationalbibliothek und wurde 1991 auf Anstoss von Friedrich Dürrenmatt gegründet. Es betreut zahlreiche literarische Nachlässe, Archive und Autorenbibliotheken des 20. und 21. Jahrhunderts.