Die Ausstellung im Museum Tinguely in Basel zeigt die Auseinandersetzungen mit "Waste", den verdrängten Hinterlassenschaften unserer Zivilisation. Die Künstlerinnen der Ausstellung machen die globalen und ökologischen Folgen unseres Konsums sichtbar.
Die rund 25 künstlerischen Positionen — unter anderem Julien Creuzet, Agnes Denes, Hira Nabi — beschäftigen sich mit jenen Auswirkungen unserer Güter- und Müllproduktion, die sich unserem Blick entziehen. Neben Abfällen, die in anderen Ländern anfallen, steht auch die Verschmutzung der Umwelt im Zentrum ihrer Arbeiten. Romy Rüegger, Eric Hattan und andere Künstler:innen präsentieren neue Arbeiten, die sich direkt auf den Basler Kontext beziehen. Mit Installationen, Videos, Skulpturen, Fotografien und Performances geht die Ausstellung von unserer Gegenwart aus, während historische Arbeiten zeigen, dass sich Künstler:innen schon seit den 1960ern mit Verschmutzung und der Zerstörung der Umwelt beim Rohstoffabbau beschäftigten.
Der Künstler Jean Tinguely äusserte in seinen Arbeiten Kritik an der Konsumgesellschaft. Sie stellen für das Museum Tinguely den Ausgangspunkt dar, sich aus einer heutigen, geopolitischen Perspektive mit dem Übriggebliebenen, mit "Waste" zu befassen. Die Arbeiten der Ausstellung rücken das Verdrängte in den Mittelpunkt, zeigen die Narben der Landschaft und machen unser Verwoben-Sein miteinander, mit anderen Lebewesen und mit der Erde über Bilder und Geschichten erfahrbar. Sie vermitteln damit nicht nur Wissen über Zusammenhänge, sondern haben viel mehr noch die Kraft unser Denken zu öffnen.
Die Beschäftigung mit Müll intensivierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als zum ersten Mal der Begriff der geplanten Obsoleszenz auftauchte und als Ökologie allmählich ins globale Bewusstsein rückte. Die Zoologin Rachel Carson schrieb über die zunehmende Verschmutzung durch Pestizide, gleichzeitig wurden Müllberge zu Zeichen der westlichen Überflussgesellschaft: ein weithin sichtbares Zuviel.
Die Abfallproduktion istindes nicht geringer geworden, im Gegenteil. 2020 wurden in der Schweiz pro Kopf durchschnittlich 700 Kilogramm Müll verursacht, eine der höchsten Raten der Welt. Eine ausdifferenzierte Abfallwirtschaft sorgt aber dafür, dass der Müll weniger sichtbar geworden ist, zumindest in Europa und in Nordamerika. Doch sind Schwermetall, Feinstaub und Mikroplastik in der gesamten Ökosphäre verteilt. Zugleich zeichnet sich eine Verschiebung in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Übriggebliebenen ab: Das Verdrängte kehrt unweigerlich zurück, denn Müll verschwindet nie, er wandert nur im Kreis, wie die Biologin Lynn Margulis erläuterte. Während früher Abfall vielfach als lokales und technisch zu lösendes Problem behandelt wurde, rückt die globale Bedrohung durch Verschmutzung und Umweltzerstörung zunehmend ins Bewusstsein. Der englische Begriff "Waste" spiegelt diese Perspektivverschiebung im Nachdenken über das Übriggebliebene.
Das Nachdenken über "Waste" wird nicht nur in der zeitgenössischen Kunst aufgegriffen, sondern wurde von dieser auch initiiert und geprägt. Künstlerinnen und Künstler fragen in der Ausstellung in Basel nach den versteckten und verdrängten ökologischen Bedingungen unseres Konsums und machen sie sichtbar: Die Künstlerin Pinar Yoldas stellt sich vor, wie Lebewesen aussähen, die aus unseren mit Mikroplastik angefüllten Ozeanen hervorgehen könnten. Weniger Science-Fiction wendeten das Duo Tita Salina & Irwan Ahmett an: Ihr Video erzählt von Plastikverschmutzung und der Vermüllung von Flüssen in Jakarta. Anca Benera & Arnold Estefän haben Proben von jenen Stränden in der französischen Normandie gesammelt, an denen im Sommer 1944 die Alliierten landeten. Sie stellten fest, dass der Sand noch immer Schwermetall enthält.
Julien Creuzets Installation behandelt mit filigranen Skulpturen und einem Film im Stil eines Musikvideos die Verschmutzung durch Pestizide auf den Französischen Antillen. Was "Waste" unsichtbar macht, ist nicht nur seine mikroskopische Grösse, sondern auch die Tatsache, dass Müll heute entlang (neo-)kolonialer Geografien global verschoben wird. Davon erzählt zum Beispiel Hira Nabi, deren dokufiktionaler Film von Frachtschiffen handelt, die an der Küste Pakistans ausgeschlachtet werden. Auch stehen die durch Bergbau und Rohstoffgewinnung zerstörten Landschaften im Zentrum künstlerischer Praktiken. Die Künstlerin Otobong Nkanga präsentiert ihre Recherchen zu einer Kupfermine in Tsumeb, Namibia in einer Installation mit Objekten, Bildern und Video. Sie erinnert damit an die Orte, die zum Zweck der Rohstoffgewinnung unter anderem unter deutscher Kolonialherrschaft ausgebeutet wurden. Zerstörte Landschaften und wastelands entstehen vor allem im Globalen Süden - weit weg, verdrängt und unsichtbar, aber durch Konsum und Abfallexport mit Europa verbunden.
Die zeitgenössischen Arbeiten stehen in der Ausstellung im Dialog mit ikonischen historischen Werken: So färbte der argentinische Künstler und Umweltaktivist Nicoläs Garcia Uriburu 1981 das Rheinwasser bei Düsseldorf grün. Der Rhein war damals einer der am stärksten verschmutzen Flüsse Europas. Joseph Beuys schloss sich ihm an, und sie füllten das Wasser in Flaschen und verkauften es. Schon etwas früher beschäftigte sich die Performancekünstlerin Mierle Laderman Ukeles auf der anderen Seite des Atlantiks mit der Arbeit, die nötig ist, um eine Wohnung, ein Museum oder eine Grossstadt sauber zu halten, sie definierte diese Kunst als Maintenance Art. Auch die Museumsarbeit selbst ist ein Faktor, wenn es um Abfall geht. Das zeigt Eric Hattans Arbeit in der Ausstellung. Der Schweizer Künstler baut aus alter Ausstellungsarchitektur, die in diesem Jahr angefallen ist und gesammelt wurde, im Zentrum der Schau eine temporäre Installation. Sie regt auch zu kritischem Nachdenken über den Ressourcenverbrauch der Ausstellungsgestaltung an. Sein humorvoller Umgang mit Materialien aus Kunst und Alltag erinnert an die Arbeiten Tinguelys.
Die Ausstellung ist wie eine Landschaft konzipiert, in der zeitgenössische und historische Werke sowie eigens realisierte Arbeiten Vielstimmigkeit erzeugen, ohne dem Publikum einen didaktischen Parcours vorzugeben. "Territories of Waste" knüpft an Jean Tinguelys Haltung an, sich auf fortwährende Veränderung einzulassen, anstatt nach Ewigkeit, Sicherheit, Dauerhaftigkeit und Unvergänglichkeit zu streben. Das Museum will anregen, sich mit wichtigen gesellschaftlichen Wandlungen auseinanderzusetzen. Deshalb bietet die Ausstellung eine Plattform, die das Bewusstsein für das (neo-)koloniale Ausbeutungssystem, die Zusammenhänge unterschiedlicher Lebensformen, für Kreisläufe auf unserem Planeten und die Endlichkeit von Ressourcen schärft. Nachhaltigkeit und die Grenzen des Wachstums sind auch im Kunstbetrieb dringende Themen. "Territories of Waste" nimmt sich dieser Themen an und bietet Raum für Diskussion und kritisches Nachdenken.
Mit Arman, Helene Aylon, Lothar Baumgarten, Anca Benera & Arnold Estefän, Joseph Beuys, Rudy Burckhardt, Carolina Caycedo, Revital Cohen & Tuur Van Balen, Julien Creuzet, Agnes Denes, Douglas Dunn, Julian Aaron Flavin, Nicoläs Garcia Uriburu, Hans Haacke, Eric Hattan, Eloise Hawser, Fabienne Hess, Barbara Klemm, Max Leiß, Diana Lelonek, Jean-Pierre Mirouze, Hira Nabi, Otobong Nkanga, Otto Piene, realities:united, Romy Rüegger, Ed Ruscha, Tita Salina & Irwan Ahmett, Tejal Shah, Mierle Laderman Ukeles, Raul Walch und Pinar Yoldas.
Publikation: Zur Ausstellung erscheint eine Publikation. Neben der Printversion steht der Katalog auch als PDF-Download auf der Webseite des Museums frei zur Verfügung. So wie Waste in seinem Charakter vermischtes Material ist, wurden die Werkbeschreibungen im Band nicht alphabetisch oder thematisch sortiert, sondern folgen in einer zufälligen Reihenfolge aufeinander.
Territories of Waste - Über die Wiederkehr des Verdrängten
Kuratorin: Dr. Sandra Beate Reimann
14. September 2022 bis 8. Januar 2023