Tangorezeptoren

CH. Linggs Arbeiten liegt immer der menschliche Körper zugrunde, der von ihr als eine Art Landschaft wahrgenommen wird. Die Erscheinungsformen in dieser menschlichen Landschaft sind ebenso wie in jeder anderen auf Verwitterungsformen zurückzuführen. Erlebtes wie Nichterlebtes hat auf dem Körper seine Spuren hinterlassen. Man könnte sozusagen von "emotionaler Verwitterung" sprechen. Die solchermaßen betrachteten Formen werden von ihr wie von jedem seriösen Geografen hinterfragt - auf eine Art rückwärts gedacht, um zu einer Ursprungsform zu kommen.

So wie dieser erste Prozess, das Annähern an eine Art ursprüngliche Form von ihr verlangt, Sedimentationsschichten "rückwärts" zu denken, erfolgt im zweiten Prozess eine neuerliche Sedimentation durch ein Teilen und Multiplizieren dieser gewonnenen Ursprungsform. Schicht für Schicht entsteht solchermaßen eine neue Körperlandschaft. So viele verschiedene Möglichkeiten der mechanischen und chemischen Verwitterung es in einer natürlichen Landschaft gibt, so viele verschiedene gibt es im emotionalen Verwitterungsbereich - und ebenso viele mechanische und chemische Techniken wendet CH. Lingg an, um die reine Form zu erodieren - so zeigen ihre Arbeiten auch immer eine Möglichkeit auf, was aus dem Wesentlichen hätte werden können, wenn andere emotionale Verwitterungen stattgefunden hätten, wenn Getue und Gehabe kein Geschiebe hinterließen, wenn Stille und Gelassenheit stattdessen eine sinnliche Poesie erzeugten.

In Literatur und Kunst werden die Begriffe für Taktiles sowie haptische Wahrnehmung gleich für das passive "Berührt werden" und für das aktive "Erkennen" verwendet. Die Haut als Oberfläche unseres Körpers ist die äußerste Schicht, die alles umschließt. Sie ist sozusagen die eigentliche Grenze unseres Selbst nach außen. Sie beherbergt und schließt aber auch nach außen ab. Die Haut ist folglich zur Metapher für Isolation von der Welt geworden. Dies spiegelt sich in einem nüchternen Nebeneinander wider, das von oberflächigem "Getue" und "Gehabe" getragen wird, und in der Oberflächen nicht mehr berührt werden, sondern just sich in der "flachen" Oberflächlichkeit verlieren.

Der Schwerpunkt der Arbeit CH. Linggs liegt gegenwärtig in diesem Herantasten an die Lesbarkeit bzw. der Durchlässigkeit dieser amorphen Oberflächen, in Einbezug und Reflektion von Flora und Fauna. Es lösen sich Grenzen auf und das scheinbar "Einfache" gewinnt an Form. Diese Begrifflichkeit umschreibt den Vorgang der Empfindung, der Wachsamkeit, der Annäherung und den Moment des Festhaltens - der Bleistift ist dabei das Medium. So sind es zum Einen die Flächen, die die äußerste Schicht bezeichnen und Linien die gegebener weise ins Innere zeigen. Während dem Prozess des Tuns, des Ertastens, findet ein lautloser Dialog zwischen den Dingen statt, die der Stille und der Langsamkeit – amorphe - Form geben.

Das Amorphe, das den Begriff "ohne Gestalt" umschreibt, weist keine geregelten Strukturen auf und hat gegenüber Kristallinem eine geringere Dichte. Ein typisches Beispiel dafür ist Glas, das wiederum die Assoziation mit Durchscheinen, Transparenz in beide Richtungen zulässt. Also ein von innen nach außen kehren und umgekehrt. Durch wiederholtes Vor und Zurück, Schichten und Sedimentieren und eine Art Rückwärtsdenken, entstehen Gebilde, die von ursprünglich Greifbarem nur noch Fragmente, Assoziationen und Erinnerungen übrig lassen. Hier beginnen sich die Dinge zu ähneln, sich übereinander zu legen.

CH. Lingg - Tangorezeptoren
5. bis 27. Februar 2010