Sowjetmoderne 1955 – 1991

Das Architekturzentrum Wien schreibt Architekturgeschichte(n): "Sowjetmoderne 1955–1991. Unbekannte Geschichten" untersucht erstmals umfassend die Architektur der nichtrussischen Sowjetrepubliken, die während der späten 1950er Jahre bis zum Ende der UdSSR im Jahr 1991 entstand. Das Forschungs- und Ausstellungsprojekt verschiebt die von Russland geprägte Perspektive und setzt die Architektur von Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Lettland, Litauen, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan und Weißrussland ins Zentrum der Betrachtung.

Während der Konstruktivismus und die stalinistische Architektur von der westlichen Architekturgeschichte weitgehend wahrgenommen wurde, war die sowjetische Moderne der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bisher praktisch unbekannt. Eine Forschungsgruppe des Architekturzentrum Wien hat in Zusammenarbeit mit lokalen ExpertInnen und ArchitektInnen den architektonischen Besonderheiten und den "Geschichten" dieser Zeit nachgespürt. Im Zuge dieses großangelegten Projekts wurden viele ForscherInnen aus Ost und West vernetzt sowie ZeitzeugInnen interviewt, deren Geschichten bisher kaum geschrieben und deren Werke noch nicht kontextualisiert wurden. Die Zeit drängt, denn viele der Bauten, die noch auf ihre architekturhistorischen Meriten warten, sind gefährdet. Zum einen lässt die mangelhafte Bautechnologie ihrer Entstehungszeit die Objekte überschnell altern, zum anderen fehlen oft der Wille oder die Ressourcen zur Instandhaltung.

Fern aller Klischees einer uniformen Sowjetarchitektur lenken die Ausstellung und die Publikation "Sowjetmoderne" den Blick auf die regionalen Besonderheiten, die in der Zeit des "Tauwetters" bis zur "Perestroika" entstanden und zeigen beeindruckende Architekturen, die die westlich dominierte Geschichtsschreibung der Nachkriegsmoderne herausfordern.

Die Ausstellung zeigt die große Vielfalt lokaler Strategien, Formen und Maßstäbe innerhalb der ehemaligen Sowjetunion auf und entkräftet jene Vorurteile, die der Architektur der kommunistischen Staaten einen gleichförmigen Stil aufgrund von angeblich einheitlichen Produktionsbedingungen und Normvorgaben im geschlossenen politischen System zuordnen wollen. Die kuratorische Narration von Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair und Alexandra Wachter wird in der Ausstellungsgestaltung von Nicole Six und Paul Petritsch räumlich umgesetzt: Die Unterteilung in vier Regionen – Baltikum, Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien – entspricht neben geografischen Gegebenheiten auch der Einschätzung der Kuratorinnen nach architektonischen Parallelen und Unterschieden. Diese ergeben sich neben klimatischen und kulturellen Besonderheiten auch aus den nationalen Geschichten dieser Regionen und ihrem jeweiligen Verhältnis zu Russland bzw. der Sowjetunion.

Während sich die Baltischen Länder stark an der Architektur des benachbarten Skandinavien orientierten, hatten die osteuropäischen Regionen Weißrussland, Ukraine und Moldawien kein Problem mit dem architektonischen Anschluss an Russland. Gänzlich anders entstanden an der südlichen Grenze Russlands, in den kaukasischen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Armenien und Georgien, starke und auf eine reiche Tradition gegründete nationale Identitäten. In den zentralasiatischen Republiken, deren Grenzen in den 1920er Jahren von den Sowjets künstlich gezogen wurden, war die "Suche nach dem Nationalen" während der ganzen Sowjetperiode hindurch auch in der Architektur ein wichtiges Thema.

Begleitend zur Ausstellung erscheint eine Publikation in deutscher und englischer Ausgabe (Verlag Park Books). Sie bietet eine heterogene Sammlung von Analysen, Rückblicken und Fallstudien: Bei einigen Beiträgen schwingt die persönliche Erfahrung dieser Zeit mit, während andere das Thema mit Distanz betrachten. Die Essays lokaler ExpertInnen werden ergänzt durch Einblicke in den sowjetischen Städtebaudiskurs sowie den seriellen Massenwohnbau und die damit verbundene zentralistische Organisation von Architektur und Bauwesen. Der zweite Teil der Publikation gibt einen breiten Überblick über ausgewählte Einzelprojekte der jeweiligen ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Selektion bildet die architektonische Entwicklung in der jeweiligen Republik ab dem Ende der 1950er Jahre bis zu den ersten postmodernen Ansätzen in den 1980er Jahren ab und legt Schwerpunkte dort, wo regionale Besonderheiten augenfällig sind. Berücksichtigt wurden sowohl sogenannte "Meisterwerke", Ikonen ihrer Zeit, als auch die breite Palette spezifisch sowjetischer Bautypologien – vom Winterzirkus über Pionierpaläste bis zu den Häusern für politische Bildung.

Sowjetmoderne 1955 – 1991
Unbekannte Geschichten
8. November 2012 bis 25. Februar 2013