Sofabilder aus Varanasi

Die Familienporträts, die Fabian Biasio in Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges in Indien, fotografiert hat, verstehen sich als Versuch einer nicht repräsentativen, religions- und kastenübergreifenden fotografischen Forschungsarbeit: Wie äussern sich die verschiedenen Arten von Frömmigkeit der einzelnen Religionsgruppen? Welche Unterschiede sind erkennbar? Was zählt mehr, die Grösse des Hausaltars, die Grösse der Kinderschar oder die Grösse des Fernsehers?

Fabian Biasio: "Als ich eines Tages im indischen Take-Away Restaurant "Sivas" in Zürich ass, staunte ich über die vielen Altäre: Hinduistische Gottheiten schauen auf die Gäste herab. An der Wand hängt ein gewobener Teppich mit islamischen Symbolen sowie ein silbernes Abbild der Kaaba in Mekka, der heiligsten muslimischen Pilgerstätte; auf einem Regal thront ein mit duftenden Blumen geschmückter, satter Buddha; in einer Ecke – umringt von brennenden Kerzen – faltet eine gütig dreinblickende Madonna die Hände.

Der Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, zählt zu den wesentlichsten Grundsätzen des indischen Staates und ist in seiner Verfassung verankert. Seit Jahrhunderten leben Anhänger verschiedener Glaubensrichtungen zumeist friedlich nebeneinander. Dennoch kommt es manchmal zu religiös motivierten Auseinandersetzungen. Grössere Unruhen traten 2002 in Gujarat auf, als 59 Hindu-Aktivisten in einem Zug verbrannt wurden. Infolge der daraufhin eskalierenden Gewalt kamen etwa 2000 Menschen um, hauptsächlich Moslems. Die politische Situation in Kaschmir kostete seit 1989 aufgrund der Aktivitäten islamistischer Terroristen bis heute schätzungsweise 30 000 Zivilpersonen das Leben. Im März 2006 starben bei einem Doppelanschlag auf den Bahnhof und einen Tempel in der Stadt Varanasi 20 Menschen.

Varanasi gilt als Stadt des Gottes Shiva Vishwanath ("Oberster Herr der Welt") und als eine der heiligsten Stätten des Hinduismus. Seit mehr als 2500 Jahren pilgern Gläubige in die Stadt, einem Zentrum traditioneller hinduistischer Kultur und Wissenschaft.

Mich interessiert das Leben der verschiedenen Kulturen dieser religiös aufgeladenen Stadt. Als Fotograf möchte ich wissen, wie hinter den Fenstern und Mauern der Häuser Varanasis gelebt wird. Die Fotokamera ist ein Türöffner: Erstaunlicherweise hat dieser Apparat praktisch rund um den Erdball eine magische Anziehung. Die meisten Leute möchten fotografiert werden, sie lieben die Anteilnahme. Sie sind für den Bruchteil einer Sekunde, solange der Verschluss der Kamera offen steht, im Zentrum der Welt. Ich realisiere Familienbilder ("Sofabilder" im Jargon der Schweizer Illustrierten) in den Häusern und Stuben der Stadtbewohner – Hindus, Moslems, Christen – Reiche und Arme, Familien und Alleinstehende, Junge und Alte.

Beachtung verdient das heute noch fest in der indischen Gesellschaft verankerte Kastensystem. Selbst indische Muslime haben ein ausgeprägtes Bewusstsein ihrer Kastenzugehörigkeit bewahrt. Der Islam lehnt Kasten und Kastensystem zwar grundsätzlich ab. Deshalb konvertierten viele Mitglieder der niedrigsten Kasten zum Islam, in der Hoffnung, der tiefen Hierarchiestufe, in die hinein sie geboren worden sind, zu entfliehen. Doch oft ist die uralte Ordnung der Kasten stärker als muslimisches Gesellschaftsverständnis.

Für die Hierarchie zwischen verschiedenen Kasten spielen die Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit eine grosse Rolle. Als besonders rein gelten die Brahmanen, die Priesterkaste. Die reinen Kasten sind bestrebt, sich möglichst von den unreinen Kasten fernzuhalten. Aus diesem Grund wird heute noch auf dem Land Unberührbaren der Zugang zu Tempeln verwehrt. Das Zusammenleben in Städten folgt jedoch anderen Regeln. Der Alltag macht eine stete räumliche Trennung fast unmöglich. Für das gemeinsame Essen in Betriebskantinen beispielsweise sind Kriterien wie dasjenige der rituellen Reinheit völlig irrelevant. Trennung findet man in Städten eher, wie überall in der Welt, nach wirtschaftlichem Status: Wer reich ist, geht mit Reichen in die Schule; wer arm ist, lebt in Armenvierteln, besucht schlechtere Schulen und bekommt dann die elenden Jobs.

Ich sehe meine Familienporträts, die jeweils mit einem Kurzinterview ergänzt wurden, als Versuch einer nicht repräsentativen, religions- und kastenübergreifenden Forschungsarbeit: Wie äussern sich die verschiedenen Arten von Frömmigkeit der einzelnen Religionsgruppen? Welche Unterschiede sind erkennbar? Was zählt mehr, die Grösse des Hausaltars, die Grösse der Kinderschar oder die Grösse des Fernsehers? Obsiegt am Ende die "Maslowsche Bedürfnispyramide"? Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow erklärte die Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse anhand eines Pyramidenmodells: Erst wenn die Grundbedürfnisse gestillt sind, gewinnen die nächsten Stufen wie Anerkennung, Selbstverwirklichung und Transzendenz – und damit der Glaube – an Bedeutung.

Sozialkritiker, aber auch Kommunisten und Terroristen bezeichnen Kapitalismus und Konsum hingegen als Religion des entfesselten Westens. Der Kapitalismus findet weltweit seine Anhänger – die glühendsten darunter stammen oft von der so genannten Unterschicht, den "Chrampfern", die es aus eigener Kraft schaffen und sich bescheidenen Wohlstand erschaffen. So sind in Indien selbst "Unberührbare" nicht zwingend arm.

Der Vorteil einer seriellen, gepflegten Aufreihung von Familienporträts aus dem Wohnzimmer ist die Unmöglichkeit, die Bilder in die eine oder andere Richtung zu deuten, ohne dabei selbst einer vorurteilsbehafteten Sichtweise zu verfallen: Diese Bilder sind sozusagen wertfrei und "zeigen, was ist"." © Fabian Biasio, November 2009

Sofabilder aus Varanasi
Fotografien von Fabian Biasio
4. Dezember 2009 bis 3. Oktober 2010