Für heute hatte ich einen andern Text vorbereitet. Da sah ich in der Sendung "Foyer" im 3sat einen Bericht ("Mayim Mayim" - Miniaturen des Erinnerns) über eine Tanzaufführung im Stadttheater Fürth: 33 Tänzer und Tänzerinnen bringen als Geschenk und Erinnerung eine Hommage an die 33 im Jahre 1942 von den Nazis deportierten und dann ermordeten Kinder. Ein berührendes Projekt. Deshalb schreibe ich über "kein Requiem"? Ja, denn im Kommentar hörte ich unter anderem die Sätze. "Schön, dass es kein Requiem wurde. Kein voyeuristischer, sondern ein sensibler und ehrlicher Umgang mit den Schrecken des Holocaust." Das traf mich derart, dass ich darüber nachdachte und jetzt schreibe.
Die Idee, das Konzept, die Ausführung sind, soweit das aus der kurzen Sendung ersichtlich werden konnte, packend und eindrücklich. Kein Kitsch, keine triefende Korrektheit. Umso mehr verwundert mich die zitiere Aussage, denn sie widerspiegelt ein Verständnis, ein Kulturverstehen, ein Wertsystem, das ich nun nicht verstehe.
Wie könnte ein Requiem, wenn es eines ist und keine Kitschauflage, also eine Pseudoproduktion, unehrlich sein oder unsensibel? Was wäre falsch gewesen, wenn die Produktion ein Requiem geworden wäre? Ist das Requiem als solches obsolet? War Benjamin Britten anbiederisch, altmodisch, unehrlich, inauthentisch mit seinem "War Requiem" (1962)? Sind Requien nur für Christen?
Ich bin kein Christ. Ich bin Atheist. Ich pflege keine Religion. Aber ich schätze Requien. Ich verstehe das Requiem als tiefe, humane, für mich künstlerische Leistung. Es erhebt und erbaut mich, es rührt den Schmerz und stillt ihn zugleich. Es schafft Würde auch in der Pein. Es spricht, vertreibt die Angst und weist in die Zukunft. Wie alle echte Kunst trotzt es dem Tod, dem Verderben.
Wie bei den meisten Opern rettet die Musik den "Stoff", der für uns sonst unzugänglich wäre, weil die Worte kitschig oder dürr sind, weil das Libretto dümmlich oder dürftig ist etc. Die Musik verwandelt, verewigt. Und war auch der Ursprung religiös (Kunst war vormals Kult und Ritual), weist solche Musik heute, auch für Areligiöse, weit über das Religiöse oder gar Kirchliche hinaus. Man braucht nicht Protestant oder Christ zu sein, um Bach zu schätzen.
Der Filosof Ernst Bloch hat zum Requiem einige schöne Worte geäussert in einem Abschnitt seines umfangreichen Buches "Das Prinzip Hoffnung" (5.Teil, Abschnitt 51):
"Der Ton zündet hierbei das Licht, das er braucht, selber an. ... Ist der Tod, als Beil des Nichts gedacht, die härteste Nicht-Utopie, so misst sich an ihr die Musik als die utopischte aller Künste. ... Die Musik der großen Requiems verschafft keinen Kunstgenuß, sondern Betroffenheit und Erschütterung; und der Kirchentext, der aus den Frühzeiten chiliastischer Angst und Sehnsucht entsprungene, gibt der Musik seine großen Archetypen heraus, unabhängig von den vergänglichen patristischen Formen. Also bringt die Musik selber die im Requiem wirkenden Symbole der Erwartung wieder hervor; sie sind ihr eingeschrieben. Und der Grund dafür, dass ein Jüngstes Gericht der Musik kein bloß mythologisches Sujet ist oder kein bloßes Bewegungsmotiv nach aufwärts wie bei Rubens, der Grund für diese Moralität liegt in dem der Musik dauernd präsenten Tod-, Contratod-Utopie-Problem."
Der oben zitierte, kurze Kommentar zeigt mir ein tiefes Missverstehen, ein Nichtwissen vielleicht an oder eine ignorante Abwertung eines Kulturwissens, das, würde es nicht nur respektiert, sondern verstanden werden, eine Bereicherung darstellte. Dafür wird der Tanz und der Kommentar als "authentisch" modern, zeitgenössisch erfahren, wirklich schön, weil kein Requiem.