Pure Schönheit. Händel Oratorium beim Styriarte Osterfestival Psalm

14. April 2023 Martina Pfeifer Steiner —
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Georg Friedrich Händels erstes Oratorium "Il Trionfo del Tempo e del Disinganno" bekommt bei der Aufführung des Ārt House17 Ensembles in der Grazer Helmut-List-Halle eine sinnlichere Färbung mit dem Titel "Lascia la spina, cogli la rosa" – "Lass die Dorne, pflücke die Rose". Da spielt das Vergnügen die Hauptrolle und wäre beinahe erfolgreich gewesen mit ihrer Überredungskunst. Doch zum Ende wird es die Bekehrung der Schönheit als Triumph von Zeit und Wahrheit. Dafür sorgte schon der Librettist Kardinal Benedetto Pamphilj, Großneffe des Barockpapstes Innozenz X.

Interessant, dass dieselbe Melodie als Klagelied "Lascia ch’io pianga" in der Oper Rinaldo auftaucht und ein überaus beliebter Klassiker heutiger Begräbnisse ist, abgesehen davon, dass Händel diese als Instrumentalstück 1705 für seine erste Oper "Almira, Königin von Castilien" komponierte, die im Hamburger Theater am Gänsemarkt uraufgeführt wurde. So viel zur damals üblichen Wiederverwertung.

Beim Styriarte Osterfestival Psalm ging es 2023 um die große Frage: Was ist Wahrheit? Da ist der Widerstreit von den zwei Allegorien-Parteien – Schönheit, Vergnügen, gegen die Zeit und die Wahrheit – ergiebig. Doch darf in der Übersetzung von 'Il Disinganno' auch das Wort Ent-täuschung oder besser noch Erkenntnis gefunden werden. Die Schönheit soll jedenfalls wieder auf den Pfad der Tugend gebracht werden, jedoch "das Vergnügen warnt davor, sich auf dunkle Gedanken einzulassen: Hat man erst einmal damit angefangen, kommen immer schwärzere nach." Und mit diesem Zitat sind wir bei der Grazer Aufführung. Es erscheint nämlich in der Textzeile zum Mitlesen über der Bühne zuerst der Titel der Arie, gefolgt von solcher Inhaltsbeschreibung.

Die musikalische Leitung des Grazer Ārt House17 Ensembles, dem es um die historische Aufführungspraxis Alter Musik in einem sehr weitreichenden Sinn geht, um daraus neue Konzertformate zu entwickeln, übernimmt einer der Gründer, Michael Hell. Der deutsche Blockflötist und Cembalovirtuose ist Professor an der Kunstuniversität Graz. Er bleibt mit zwei Violinen, einer Viola, einem Kontrabass, einem Cello, Oboe sowie zwei Flöten sehr schlank in der Instrumentierung – alle (auch die Cellistin) musizieren im Stehen – und spielt das Cembalo selbst. Das bringt Händels Oratorium an seine Essenz.

Anfang des 18. Jhd. waren Singspiele ausschließlich Männerstimmen vorbehalten. In Graz verzaubern die ukrainische Sopranistin Tetiana Miyus als Schönheit und die Wienerin Anna Manske mit kräftig-klarem Mezzosopran als Vergnügen; bleibt nur für die Zeit eine männliche Besetzung, nämlich der vielseitige Tenor Markus Schäfer; überzeugt die Altistin Iris Vermillion – gefragt an den wichtigsten Opernhäusern wie Teatro Real in Madrid, Wiener Staatsoper, Dresdner Semperoper etc. – mit starker, sonorer Ausdruckskraft als Wahrheit nicht nur die Schönheit, sondern auch das Publikum. Die exzellente Akustik in der Helmut-List-Halle (ehemalige Industriehalle) muss ebenfalls hervorgehoben werden und es verwundert nicht, wenn man erfährt, dass Nikolaus Harnoncourt dabei beratend mitwirkte.

Das geistliche "dramma per musica" nimmt seinen Lauf: "Die Zeit und die Ent-täuschung lassen sich nicht vertreiben. Sie wollen der Schönheit klar machen, dass sie wie eine abgeschnittene Blume sterben wird." Noch brutaler wird argumentiert: "Die Zeit empfiehlt, einmal in den vielen Gräbern nachzuschauen, ob da denn irgendeine Schönheit zu finden sei, oder nicht eher Schrecken und Verzweiflung." Am Ende wendet sich die Schönheit an den Heiligen Vater (eh klar, man denke an die Verwandtschaftsverhältnisse des Librettisten): "Tu del ciel ministro eletto", "Du, des Himmels erwählter Stellvertreter", dessen Stern die Wahrheit erleuchtet. Sie ist bekehrt.

Ein Seitenblick sei erlaubt: Im November 22 wurde bei den Montforter Zwischentönen ebendieses Oratorium zum Überthema "Sehnsucht und Verwandlung" aufgeführt (ergänzend zum Nachlesen: der Artikel auf Kultur Online). Greift man in Feldkirch zu Kammerorchester und Videoproduktion, bleibt man in Graz konzentriert und pur, nur das aufgespannte blumige Bühnenbild changiert in stimmungsadäquaten Tönen. Dass folgende Textzeilen in der Partitur stehen: "Der Jüngling mochte mit schmeichelnden Tönen Vergnügen wecken. Die Schönheit ist vom Spiel des Jünglings beeindruckt", und Händel sich als begnadeter Orgelspieler ein kleines Konzert hineinkomponierte, war dort halbszenisches Thema, beim Psalm Festival reichte das virtuose Spiel von Michael Hell vollends, der unmittelbar darauf kurzseitig den Platz wechselte, um mit seiner Flauto dolce einzustimmen. Tosender Applaus des Publikums, still-beseelter Nachklang beim Individuum.

Styriarte Osterfestival PSALM "Lascia la Spina"
Il Trionfo del Tempo e del Disinganno, HWV 46a
von Georg Friedrich Händel (1685–1759)

Tetiana Miyus, Sopran (Bellezza/Schönheit)
Anna Manske, Sopran (Piacere/Vergnügen)
Iris Vermillion, Alt (Disinganno/Wahrheit)
Markus Schäfer, Tenor (Tempo/Zeit)

Ārt House17
Leitung: Michael Hell, Cembalo und Flauto dolce