Die Gemälde von Nicola Samorì sind voll sinnlicher Kraft. Wie ein alter Meister des Barock baut der 35-jährige Künstler sie auf, bevor er sie durch Interventionen mit dem Pinsel, dem Spachtel oder dem Skalpell teilweise wieder zerstört. Die Kunsthalle Tübingen lädt dazu ein, die Bilder des international aufstrebenden Italieners in seiner ersten musealen Einzelausstellung zu entdecken.
Nicola Samorì hat mehr von Holbein, Michelangelo oder Caravaggio gelernt als von seinen Professoren an der Accademia di Bologna. Die technischen Fähigkeiten des 35-jährigen Italieners lassen sich an denen der alten Meister der Renaissance oder des Barock messen. Doch steht der Maler aus der Romagna auch der italienischen Nachkriegsmoderne und der Arte Povera nahe. Lucio Fontana mit seinen Schlitzungen und Perforationen ist ihm ebenso ein Vorbild wie Gino de Dominicis oder Michelangelo Pistoletto. Mit ihnen teilt er den Gedanken, aus Vorhandenem mittels künstlerischer Transformation Neues schaffen zu wollen.
Seine Sujets schöpft Samorì aus der Kunstgeschichte: Porträts, Kreuzigungen, Heilige, Stillleben, Landschaften. In seinen Kompositionen hält er sich meist an das Chiaroscuro des Barock. Seine Figuren treten in dramatischer Lebensechtheit aus dem Dunkel des Bildraums hervor ins Licht. Mit höchster Präzision vollendet er seine Bilder in altmeisterlicher Manier. Umso schmerzhafter sind die Eingriffe, denen er sie unterzieht: Er verzerrt sie, verschmiert sie mit der Hand, verzieht sie mit dem Spachtel, übermalt sie, bekleckert sie oder löst, einem Folterknecht gleich, mit dem Skalpell die halbtrockene Haut der obersten Malschicht ab. Bei aller zerstörerischen Gewalt, die diesen virtuosen Manipulationen innewohnt, handelt es sich bei seinen Gemälden um dekonstruktive Kompositionen, die das historische Bilderbe mit höchster sinnlicher Kraft dem heutigen Betrachter verfügbar machen.
Samorì hat in den letzten Jahren auf dem Kunstmarkt für einige Aufmerksamkeit gesorgt. Galerien in Bologna, Trient, Turin, Mailand, Berlin, Kopenhagen, Kapstadt, London oder New York zeigen seine Arbeiten. Die Kunsthalle Tübingen widmet ihm nun seine erste museale Einzelausstellung und trägt damit dazu bei, dass ein breiteres Publikum die Werke des höchst begabten Ausnahmekünstlers kennenlernen kann. Neben etwa 60 Bildern und 5 skulpturalen Arbeiten Samorìs wird auch eine exquisite kleine Auswahl an Barockwerken präsentiert, die den Künstler inspirierten, darunter ein großes Ölgemälde, das erst jüngst Jusepe de Ribera zugeschrieben wurde.
Nicola Samorì - Fegefeuer
22. September bis 2. Dezember 2012