Nan Goldin – Berlin Work

Nan Goldins Fotografien sind Bilder ihres Lebens. Sie zeigen in unerschöpflicher Fülle und in schwirrender Farbigkeit die "Familie" Goldins – ihre Freunde, Bekannten, Liebhaber. Seit sie mit 14 Jahren ihr Elternhaus verließ, lebte sie mit einer Subkulturszene von Drag Queens, Transvestiten und Homosexuellen zuerst in Boston und ab 1978 in New Yorks Lower East Side. 1991 kam sie durch ein DAAD-Stipendium für ein Jahr nach Berlin und blieb dort mit kurzen Unterbrechungen bis 1994. Seither ist sie immer wieder in die Stadt zurückgekehrt.

In der Ausstellung "Nan Goldin – Berlin Work" des Landesmuseums für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur werden 80 ausgewählte Fotoarbeiten, die zwischen 1984 und 2009 in Berlin entstanden sind, und dazu bisher unveröffentlichtes Archivmaterial aus dem Besitz der Künstlerin präsentiert. Vier Bildtableaus, die so genannten "grids", ergänzen die Fotografien in Form von narrativen Sequenzen, welche Schlüsselthemen und wichtige Figuren dieser Zeit vorstellen und einen entscheidenden Beitrag für das Verständnis von Goldins Berlin-Bild leisten.

Der Bezug zur Berlinischen Galerie stellt sich nicht nur über den Berlin-Aufenthalt der Künstlerin her. Durch eine Schenkung gelangte im Jahr 1996 die Arbeit "Self-portrait in my blue bathroom" (1992) in die Sammlung des Landesmuseums. Die Ausstellung knüpft somit an den Bestand des Hauses an und unterstreicht seinen internationalen Charakter. "Nan Goldin – Berlin Work" vereint zum einen bereits andernorts gezeigte und publizierte Fotos, und präsentiert zum anderen auch vollkommen neues Material. Die Ausstellung zeigt in thematischer und chronologischer Form einen Überblick dessen, was Nan Goldin während ihrer ausgiebigen Aufenthalte realisiert hat. Künstlerporträts, Interieurs, Selbstporträts, Stillleben und Straßenszenen geben Einblicke in das Leben einer Bohème jenseits der Klischées. Ihre Fotografien scheinen mit ihrer Schnappschuss-Ästhetik keinen Wert auf den sorgfältig komponierten und ausgeführten Farbabzug zu legen. Sie erhebt Personen zum Bildgegenstand, die eher Außenseiterrollen in der Gesellschaft und ihrer visuellen Kultur belegen.

Neben der Betonung des autobiografischen Aspekts ihrer Arbeiten haben die Aufnahmen Goldins ebenso dokumentarischen Charakter gegenüber der Undergroundkultur. Während die frühen Arbeiten Goldins lediglich in der Akkumulation zugänglich und zu verstehen sind, so ist in jüngster Zeit eine Konzentration auf das Selbst- und das Einzelporträt zu erkennen. In diesen Porträts versucht sie, sich mit der Kamera dem Inneren der dargestellten Personen anzunähern. Berlin als neuer Erfahrungsort bietet Goldin die Möglichkeit, in die Künstlerszene der Stadt einzutauchen und zu porträtieren. Es entstehen neue, ungewöhnliche Aufnahmen ihrer engsten Freunde aus New York. Während Joey nicht mehr als "Queen" in schillernden Kostümen auftritt, sondern mit ihrem Freund Andres in intimen Momenten und beim Erleben des Berliner Nachtlebens fotografiert wird, generiert Nan Goldin mit den Porträts von Siobhan eine neue Bildsprache, die mit der weitgehenden Reduktion der Farbigkeit und der formalen Konzentration auf eine Person eine strenge, nachdenkliche Bildform hervorbringt.

In ihren frühen Selbstporträts stellt sich Goldin häufig in Beziehung zu anderen Personen dar. Sie präsentiert sich dem Betrachter bei sexuellen Aktivitäten oder setzt sich gar als eine Art "Pin-up" in Szene. Ferner zeigt sie die körperlich destruktiven Konsequenzen ihrer "gefährlichen Liebschaften". Der Spiegel wird als metaphorisch aufgeladenes Bildelement immer wieder in die Komposition der Selbstporträts miteingebunden und für Selbstanalyse und Introspektion genutzt. Ihr Selbstporträt im Zug ("Self-Portrait on the Train, Germany", 1992), aber auch das erschütternde Selbstbildnis "Nan after being battered" zeugen von einer Lebensphase, in der ihr Privatleben einen tiefen Einschnitt erfuhr und die geografische Distanz von den USA einer Suche nach persönlicher Veränderung gleichkam.

Immer wieder hat sich Goldin mit Innenräumen beschäftigt. Ein in ihren Fotografien stets wiederkehrendes Motiv sind leere Betten und Hotelzimmer. Nicht nur der Verweis auf das Bett als sexuell konnotiertes Möbelstück ist hierbei wichtig, sondern auch vor allem der transitorische Aspekt eines Ortes, den nacheinander viele unterschiedliche Menschen bewohnen, ohne sich zu kennen. Die Städte, die Goldin bereist, finden sich in der Darstellung der bewohnten Hotelzimmer wieder und reichen von großartigen Suiten in teuren Fünf-Sterne-Hotels über heruntergekommene Absteigen bis zu zerwühlten Matratzenlagern in den WGs der achtziger Jahre und fein komponierten Settings in ihrem eigenen Apartment. Manche der Orte, die sie in ihren Interieuraufnahmen festhielt, wie das Bordell Bel Ami im Grunewald oder die Lützow Lampe Bar in Schöneberg, wirken heute wie Zeitkapseln, die vom allgemeinen Transformations-Prozess der 1990er Jahre unberührt blieben.

Die Schnappschussästhetik Goldins täuscht über den Sachverhalt hinweg, dass sie, ausgestattet mit einem geschulten kunsthistorischen Blick, auch Bilder komponiert. Kunsthistorische Verweise, angefangen bei Spiegeln, Bildern und Konstellationen im Bild, lassen evident werden, dass ihre Fotos nicht ausschließlich aus dem Affekt heraus entstehen. Manche der Stillleben sind durchaus als "klassisch" zu bezeichnen und offenbaren Goldins sensiblen Umgang mit ihren Sujets.

Nan Goldin – Berlin Work
Fotografien 1984-2009
20. November 10 bis 28. März 11