Nairy Baghramian zählt zu den bedeutendsten Bildhauerinnen ihrer Generation. Sie setzt sich, meist ausgehend vom (fragmentierten) menschlichen Körper, mit den grundlegenden Fragen der Kunstproduktion auseinander: mit dem Verhältnis von Schaffen und Rezeption, von Bild und Rahmung, Objekt und Sockel etwa, sowie mit dem Einsatz von Material und dem Bezug zum Alltäglichen.
In ortsbezogenen Installationen, fragil wirkenden Skulpturen, die sichtlich Stützung brauchen, Zeichnungen und fotografischen Arbeiten formuliert sie eine klare Absage an die Konvention der selbstbewussten Pose, der dominanten Setzung, an den Anspruch des Immerwährenden. In ihrer künstlerischen Formensprache, Materialwahl und Herangehensweise dem Postminimalismus gleichermaßen nahe stehend wie der Konzeptkunst, nutzt die Künstlerin das Potenzial der Abstraktion, um komplexe Fragestellungen zu verhandeln und für sie eine ästhetisch formale Entsprechung zu finden. Baghramian selbst spricht dabei von "ambivalenter Abstraktion". Ausgangspunkt für ihre Interventionen und Skulpturen ist stets der Bezug zu Architektur, Geschichte und sozialem wie institutionellem Kontext des Ausstellungsortes, ohne dass sie dabei von diesem abhängig würden. Charakteristisch ist ihre räumliche Annäherung von der Peripherie, den Durchgängen und Korridoren hin zum Zentrum, wobei sie sich ihrer Umgebung eher einschreiben und eine Stelle markieren, als den Raum zu dominieren.
Ihre Werke für den Innen- wie den Außenraum bestehen häufig aus mehreren Elementen und aus so unterschiedlichen Materialien wie Aluminium, Glas, pigmentiertem Wachs, Marmor, Porzellan, Kork, Polyurethan und Epoxidharz. Organische Formen, die dicht gebündelt sind, ineinandergreifen, einander stützen, tragen oder aneinander lehnen, stellen ihre gegenseitige Abhängigkeit subtil und doch deutlich zur Schau. Die Korrelation oder Interdependenz der Objekte wird zudem durch den Einsatz von prothesenartigen Stützen und Zwingen betont, wobei vermeintliche Mängel der Arbeit immanent bleiben dürfen: "Meine Skulpturen sollen die Zweifel an ihnen mit formulieren." Das macht ihre Werke angreifbar und verletzlich, während die Hilfskonstruktionen zugleich auf ihre konzeptuelle temporäre Qualität und Veränderbarkeit verweisen.
Bereits 2018 waren Skulpturen von Nairy Baghramian im Hauptraum der Secession zu sehen: zwei Werke aus ihrer Serie "Scruff of the Neck" (2016), die Assoziationen an Zahnprothesen nahelegen, waren in der von Anthony Huberman kuratierten Gruppenausstellung "Andere Mechanismen" prominent im Eingangsbereich platziert. In ihrer Einzelausstellung ebendort präsentiert die Künstlerin nun eine Installation, die mit Skulpturen aus ihren Werkserien "Dwindlers" und "Breath Holding Spells", welche der Ausstellung auch den Titel leiht, auf die spezifischen räumlichen Gegebenheiten reagiert. Gleichsam wie in einer Raumzeichnung nimmt die Anordnung der Skulpturen die Form des Raums auf und betont seine Achsen; zugleich erscheint diese Komposition wie ein Kreislaufsystem, das üblicherweise im Hintergrund verborgen bleibt und dessen Rohre nun ans Tageslicht treten, wenn auch nur stellenweise. Die Zirkulation ist undicht, offensichtlich dysfunktional geworden, an manchen Stellen sind gar Verklumpungen zu vernehmen. Wie etwas in die Jahre gekommene, poröse Adern, Regen- oder Lüftungsrohre muten die parallel zum Boden in Kniehöhe verlaufenden und vertikal wie horizontal an den Wänden fixierten "Dwindlers" an. Ihre Fragilität und die für die Skulpturen gewählten Materialien vermitteln ebenso wie der Titel ein Bild höchster Verletzlichkeit. Das wörtlich übersetzte Dahinschwinden, Schrumpfen, zur Neige gehen der "Dwindlers" ist diesen gläsernen, schmutzig eingefärbten und durch verzinkte Metallklammern zusammengehaltenen, rohrförmigen Hohlkörpern eingeschrieben. Der Titel der Skulpturen aus der Serie "Breath Holding Spells", deren Formgebung an jene von Überdruckventilen erinnert, kann salopp als (Wut)Anfall, Krampf oder Koller übersetzt werden: Jemand muss dringend Dampf ablassen. Wir haben es hier also mit einem System zu tun, das offenbar in prekärem Zustand ist.
Eine neue, mehrteilige Wandarbeit aus Aluminium und Wachs, "Deep Furrow", die von verchromten Stahlrohren gehalten wird, ist ebenso mehrdeutig und rätselhaft wie die "Dwindlers". Auch sie könnte auf die institutionelle Infrastruktur verweisen und scheint gleichzeitig den abstrakten skulpturalen Gegenpol zur fotografischen Arbeit "Tight Sluice" zu bilden, in der eine Gruppe dicht aneinandergedrängt stehender Personen ausschnitthaft zu sehen ist. Variationen dieses Motivs bilden gleichzeitig das Material für das die Ausstellung begleitende Künstlerbuch.
Wie so oft integriert Baghramian neben der erwähnten Arbeit im Künstlerbuch auch in dieser Installation eine Fotografie: "The Pincher" (dt. etwa der Zwicker, die Zange) zeigt ein abstrahiertes Werkzeug, das aus lose aneinandergelegten, dunkel glänzenden Kunststoffteilen gebildet wird, wie die Teile eines archäologischen Fundes. Dieses Bild einer – angedeuteten – Zange, welche durch einen geschickt gesetzten Schnitt womöglich eine bevorstehende Katastrophe abwenden könnte, soll wohl anregen, das Funktionieren eines vorliegenden (maroden?) Systems zu hinterfragen und dessen Mechanismen kritisch zu analysieren.
Nairy Baghramian, geboren 1971 in Isfahan, lebt und arbeitet in Berlin.
Nairy Baghramian
Breath Holding Spell
Kuratorin: Jeanette Pacher
Bis 20. Februar 2022