Das Festival "Montforter Zwischentöne" ist für ausgefallene Formate bekannt, der Pianist Marino Formenti für seine extravaganten Programme. Und wenn diese Konstellation über eine Kooperation mit dem Kunsthaus Bregenz in der aktuellen Ausstellung von Anna Boghiguian zusammen trifft, sind tiefe Ergriffenheit, hoher Kunstgenuss und reichlich Emotion garantiert.
Als Vorspann und Einstimmung gab es am Nachmittag die Dialogführung mit dem exzeptionellen Musiker und dem KUB-Direktor Thomas D. Trummer durch die Ausstellung "Period of Change. Time of Change". Marino Formenti kennt die akustischen Herausforderungen der Räumlichkeiten des KUB, bespielte er doch 2004 zu den Installationen von Jenny Holzer alle vier Geschoße als wandelnder Pianist auf gestimmten und umgestimmten Klavieren, mit Flaschen, Vasen, Dosen, Radios, CD-Player, Lautsprecher, Kaffeefiltern, Skalpellen, Metallplatten, einer Bohrmaschine und einer singenden Teekanne. Formenti konzipiert gerne Projekte, die Konzertformen erweitern oder in Frage stellen. Vielen in Erinnerung ist seine acht Tage, jeweils von 10:00 bis 22:00 Uhr dauernde Performance in der Bregenzer Galerie K12 (2011, Kunst aus der Zeit, Bregenzer Festspiele), womit er die Grenzen zwischen Bühne und Leben, Tag und Nacht auslotete und übliche Konzertkonventionen wie Zeit, Programm, Ort verweigerte.
Zurück zu den akustischen Herausforderungen: Formenti berichtet, wie ausführlich getüftelt wurde, bis der Konzertflügel die richtige Position hatte. Das riesige im Foyer aufgespannte, von Anna Boghiguian bemalte "Liberty"-Segel wäre durchaus hilfreich gewesen, denn Umstellung oder Adaptionen in einer laufenden Ausstellung sind ja unmöglich. Die Akustik im Kunsthaus ergibt bei Thomas D. Trummers Assoziationen einen schönen Vergleich: seiner Wahrnehmung nach tritt bei den Besucherinnen, wenn sie die einzelnen Stockwerke betreten, schlagartig eine andächtige Aufmerksamkeit ein, auch wenn dazwischen im Stiegenhaus geschwatzt und gehüstelt, geräuspert wird – die räumliche Erfahrung einer viersätzigen Komposition?
Ludwig van Beethovens "Für Elise", die vielleicht berühmteste Bagatelle der Welt, gibt dem Klavierrezital am Abend Titel und ist auch die Trägermelodie. Dass sich Formenti mit der Kunstinstallation von Anna Boghiguian auseinandersetzte, die mit ihren Schachfiguren und deren emotionalen, zeichnerisch erzählten Geschichten ungeahnte Spuren und Verbindungen legt, ist deutlich spürbar. Ebenso vereint auch der Pianist in seinem Programm Kompositionen vom Mittelalter bis in die Gegenwart zu einer Gesamtheit, findet überraschende Bezüge, verändert durch unterschiedliche expressive, technische, historische oder stilistische Belegungen die immer wiederkehrende Melodie zum neuen Hörerlebnis.
Dieses Hauptmotiv taucht als aufleuchtende Markierung zwischen den musikalisch schlüssig abfolgenden Werken von Girolamo Frescobaldi (geb. 1583), François Couperin (geb. 1668) – wie schön, eines der drei Stücke nennt er "Le Petit Rien" – , dem Praeludium von J.S. Bach, einer Nocturne von Fréderic Chopin. Erklingt der dramatische Klangteppich von Philip Glass, ist plötzlich der Film "The Hours" präsent, von dem nicht Meryl Streep, Julianne Moore oder Nicole Kidman in Erinnerung blieben, sondern ausschließlich die Filmmusik. Und tatsächlich, sie stammt von Glass! Wem der Pianist den Rücken zuwendet, der hat beim Stück von Enno Poppe (geb. 1969) das Privileg in die irre gekritzelten Notenblätter zu schauen und Cluster sowie kristalline Intervalle auch noch visuell zu erleben. Beruhigend dann „Peace Piece“ von Bill Evans (geb. 1929), das lyrisch, in sich gekehrt, unmittelbar in einer arabischen Melodie (anonym, 14. Jhd.) mündet. Und ein letztes Mal, sehr nachdenklich, "Für Elise".
Drei Zugaben bekommt das begeisterte Publikum noch geschenkt, es wollte Marino Formenti wohl sonst nicht gehen lassen.
Montforter Zwischentöne
WoFür Elise? Verwünschung, Kollision, Verzauberung, Verwandlung
Klavierkonzert mit dem Pianisten Marino Formenti
9.11.22 im Kunsthaus Bregenz