Mika Rottenberg - Antimateriefabrik

Bis 3. November zeigt das Museum Tinguely in Basel einen Überblick über das vielseitige Schaffen von Mika Rottenberg, die bereits mit Arbeiten an der Venedig Biennale (2015), Skulptur Projekte Münster (2017) und Istanbul Biennale (2019) international Aufmerksamkeit erlangt hat. Ihre Videos spiegeln auf überraschende und spielerische Weise absurde Situationen kapitalistischer Produktionslogik. Sie sprechen mit berauschend-malerischen Farbkaskaden alle Sinne an und überbrücken mit augenzwinkernder Leichtigkeit Weltgegenden und Dimensionen.

Der Titel "Antimatter Factory" zitiert den Namen einer Forschungsabteilung am CERN in Genf, die Experimente zur Antimaterie durchführt. Rottenberg fand dort als Artist in Residence Inspiration für ihre Arbeit "Spaghetti Blockchain" (2019-2024), die im Rahmen der Ausstellung erstmals als Dreikanal-Videoinstallation gezeigt wird. Diese hat den Austausch von Energien, Objekten und Menschen zum Thema, verbindet das Mikroskopische mit dem Makroskopischen und verschiebt Materie wie durch Zauberei durch Raum und Zeit. Damit stehen die Besucher:innen mitten in Rottenbergs künstlerischem Kosmos.

Eine Fabrik, die Antimaterie produziert, könnte auch eine Umschreibung sein für Tinguelys Maschinenskulpturen, die Poesie statt verwertbarer Materie kreieren und so die industrielle Warenproduktion als Ausbeutungsverhältnis zwischen Mensch und Maschine persiflieren. Rottenbergs ironischer Blick auf die überraschenden, oft geradezu wundersamen Verknüpfungen in der weltumspannenden Produktion von Gütern führen diese Thematik weiter. Mit ihrem sozialen Surrealismus schafft sie Parabeln für die Entfremdung, die schon Karl Marx in der "Entfremdung der Menschenwelt durch die Verwertung der Sachenwelt" diagnostizierte. Was ihre Kritik an unserer kapitalistischen Warenproduktion noch relevanter macht, ist deren zunehmende Geschwindigkeit, der weltumspannende freie Fluss von Waren (und nicht von Menschen) und die Digitalisierung, die Dinge von ihrer Repräsentation entkoppelt. Daraus folgt ein weiteres Thema Rottenbergs, die Frage nach der Handlungsmacht von Dingen und Materialien und der ihnen innewohnenden Spiritualität.

Die Überblickspräsentation stellt eine umfassende Werkauswahl ihrer Videoarbeiten und -installationen vor. Die Besucher:innen werden durch das Geräusch von Niesen empfangen und sehen als erste Videoarbeit "Sneeze" von 2012. Das Niesen ist ein Thema, das in mehreren Arbeiten Rottenbergs auftaucht und die Künstlerin ebenso wie das Wachsen von Haaren, Finger- oder Zehennägeln als vegetativ-körperliches Produkt fasziniert.

Die Videoinstallation "No Nose Knows" entstand 2015 für die Biennale in Venedig. Sie zeigt die industrielle Perlenproduktion in einer Fabrik im Südchinesischen Zhuji von der Einpflanzung des Fremdkörpers in Austern, die diese mit Perlmutt umhüllen, bis zur "Ernte" und Selektion. Verbunden ist dieser Ort über Räderwerk und Transmissionsriemen mit einem Arbeitsplatz, an dem eine Frau durch Blumensträusse zum Niesen von Nudelgerichten angeregt wird, während sich ihre Nase kontinuierlich verlängert. Die Frage nach der Produktivität ist zugespitzt auf eine allergische Reaktion, die sehr individuell ist, aber auch willenlos geschieht.

Die Inspiration für "Cheese" (2008) fand Rottenberg in der Geschichte der Familie der "Seven Sutherland Sisters", die um 1900 als Familiengesangsgruppe auftraten und mit ihren überlangen Haaren als Markenzeichen für ein erfolgreich vermarktetes Haarwuchsmittel grossen kommerziellen Erfolg hatten. Mit dem Label "The Lucky Number 7" versprechen sie nicht nur verstärkten Haarwuchs, sondern auch Glück. Rottenbergs Installation besteht aus einem begehbaren, labyrinthischen Bretterverschlag, in dem die Wirkkraft langer Haare mit der Energie der Gischt der Niagarafälle zur Herstellung des Haarwuchsmittels zusammenwirkt. Verbunden ist diese Geschichte auf surreale Weise über eine Bricolage von hölzernen Transmissionsanordnungen mit der Herstellung von Ziegenkäse.

Wer die Videoinstallation "Cosmic Generator" (2017) durch einen Tunnel betritt, begibt sich mit dem Film auf eine Reise durch ein enges Tunnelsystem im Licht flackernder, farbiger Glühbirnen. Die Kamerafahrt beginnt im Zentrum eines chinesisch bemusterten Tellers und wird begleitet von Streichmusik, die an den letzten Besuch im chinesischen Restaurant erinnert, von quietschenden Fahrgeräuschen und vom bratzelnden Ton elektrischer Kurzschlüsse. Die Fahrt mündet in ein blubberndes Meer farbiger Glühbirnenscherben, um nahtlos in ein Panorama entlang eines Grossmarktes in Yiwu in China überzugehen. Die visuelle Exuberanz dieser Verkaufskojen ergibt sich aus der Gleichförmigkeit und Spezialisierung der einzelnen Stände: Entweder werden Plastikgirlanden in allen Farben oder Lichterketten aller Art oder blinkende Tannenbäume oder bunte Plastikblumen verkauft. Der Fetisch der überquellenden Warenwelt wird konterkariert durch die Verkäuferinnen, die kaum sichtbar inmitten ihrer Produkte verschwinden. Inspiriert ist der Film durch einen Besuch in der Grenzstadt Mexicali, die eine grosse chinesische Population und eine grosse Zahl einförmiger, chinesischer Restaurants auszeichnet. Vor dem Bau des Grenzzaunes war die Stadt durch ein Tunnelsystem mit der benachbarten kalifornische Stadt Calexico verbunden. So wie im Film mit simplem "jump cut" Distanzen und Dimensionen überbrückt werden, kann dieser als Allegorie auf den weltumspannenden Fluss der Warenwelt und die örtliche Gebundenheit der Menschen angesehen werden.

Neben weiteren Videoarbeiten und -installationen wie "Time and a Half" (2003), "Fried Sweat" (2008), "Smoky Lips" (2016-19), "Untitled Ceiling Projection" (2018), die fast zwanzig Schaffensjahre umfassen, zeigt die Ausstellung eine Auswahl kinetischer, teils interaktiver hybrider Skulpturen mit surrealen Funktions- und Materialkompositionen aus der Zeit von 2020 bis 2022, sowie eine erstmals ausgestellte Werkgruppe von Lampenskulpturen, die gewachsene organische Strukturen mit farbigen Lampenschirmen aus wiederverwertetem Plastik verbinden. Speziell für die Ausstellung ist im Solitude Park eine rund drei Meter hohe Brunnenskulptur in Form eines farbigen, wasserspeienden Fusses entstanden.

Der im Vortragssaal des Museums präsentierte Spielfilm "Remote" (2022) entstand während der Coronazeit in Kooperation von Rottenberg und dem Filmemacher und Autor Mahyad Tousi. Er basiert auf Gesprächen zwischen den beiden während der Zeit des physischen Lockdowns, als digitale Kommunikationsmedien eine neue Bedeutung erhielten. Der Film entwirft eine phantastische Geschichte in einer post-pandemischen Zeit, in der physische und digitale Interaktion unerwartet zusammenfinden und sich Distanzen aufheben. Rottenbergs künstlerisches Werk hinterfragt unhinterfragte Produktionsbedingungen und den Wert von Arbeit in einem marxistischen Sinn mit einem besonderen Augenmerk auf die Situation weiblicher Arbeitskräfte in überzeichneten, surreal-absurden Situationen. Auf spielerische Weise kehrt sie Ursachen und Wirkungen um, hüpft zwischen kleinsten und grössten Masstäben hin und her und erschafft eine Alchemie von Energien und Kosmologien. Die Betrachterin und der Betrachter finden sich in einer Phantasiewelt von berauschender Sinnlichkeit und irritierender Unlogik wieder, die etwas sehr Befreiendes hat. Es sind Ökosysteme der Verführung und der Magie, die Wirklichkeit und Imagination verbinden und die ein Denken auszeichnet, das Körperlichkeit in architektonischen Maßstäben denkt: Raum und Zeit, Innen und Aussen, oben und unten, Nähe und Distanz, Reinheit und Schmutz, Glätte und Widerstand. Mit ihrer kreativen Anverwandlung unterschiedlichster Materialien und deren "Agency", die für alternative Epistemologien offen sind, nahm sie Entwicklungen vorweg, die heute unter dem Begriff "Neuer Materialismus" komplexere Verbindungen von Technologie, Natur und Umwelt untersucht.

Mika Rottenberg. Antimatter Factory
Bis 3. November 2024