Michel Piccoli beim langsamen Sterben zusehen

11. August 2007
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Hiner Saleems "Sous les toits de Paris", in dem ein grandioser Michel Piccoli in der Hauptrolle brilliert, sorgte gegen Ende des 60. Filmfestivals von Locarno noch für einen Höhepunkt im Wettbewerb. – Anwärter auf den Goldenen Leoparden, der heute abend vergeben wird, gibt es angesichts des Fehlens eines klaren Favoriten aber mehrere.

Würde Michel Piccoli in Locarno nicht schon mit dem "Excellence Award" ausgezeichnet, wäre ihm der Preis für den besten Hauptdarsteller kaum zu nehmen. Nicht nur das Zentrum, sondern auch das Herz des neuen Films des Kurden Hiner Saleem ist der 82-jährige französische Schauspieler. Wie er das langsame Sterben des alten Marcel spielt, das ist bei aller Tragik des Geschehens ein Vergnügen anzusehen. Dabei beginnt "Sous les toits de Paris" noch durchaus heiter und gelöst mit Besuchen in Hallenbad und Restaurant, wo die Kellnerin Therese Marcel anhimmelt, während sie seinen Freund kaum beachtet. Wunderbar beschwört Saleem, dem mit diesem Film eine unerwartete Steigerung gegenüber seinen bisherigen Werken "Wodka Lemon" oder "Dol" gelingt, in wenigen, aber äusserst präzisen Einstellungen die Pariser Sommerhitze: überall drehen sich Ventilatoren und die Menschen schwitzen. Geradezu physisch spürbar wird hier, wie erfrischend ein Sprung ins Schwimmbecken, eine kalte Dusche oder ein laues Lüftchen sind.

Heiss ist es auch in dem heruntergekommenen Pariser Block, in dessen Dachgeschoss Marcel in einer engen Wohnung haust. Deshalb bringt Therese ihm einen Ventilator so wie sie ihm am Ende einen Radiator bringen will, damit er sich in der eisigen Winterkälte wärmen kann. So spannt sich der Bogen von "Sous les toits de Paris", in Sequenzen gegliedert durch Blicke über die Dächer der Stadt, nicht nur vom Sommer zum Winter, sondern auch vom noch erträglichen Alter über zunehmende Gebrechlichkeit und Einsamkeit bis zum Tod. Nur am Beginn wird sich Marcels Sohn einmal mit dem Vater treffen, auch der Freund wird sich bald in Richtung türkische Heimat verabschieden und das Restaurant, das auch einen Treffpunkt darstellte wird schließen. Abnehmen werden die sozialen Kontakte aber auch, weil Marcels körperliche Kräfte nachlassen und er am Ende fast nur noch kriechend den Weg bis zur Toilette im Gang zurücklegen kann.

Saleem verzichtet beinahe völlig auf Dialoge, setzt ganz auf das Spiel der Blicke und Gesten, vermittelt aber mittels einer präzisen Tonspur durch das Rauschen einer angenehm kühlenden sommerlichen Brise, das Prasseln des Regens oder das Pfeifen des eisigen Winterwindes den Wechsel der Jahreszeiten und setzt dem Hinsiechen in mit Musik unterlegten Rückblenden geträumte glückliche Zeiten gegenüber.

Unglaublich warmherzig, aber nie sentimental erzählt der in Frankreich lebende Kurde diese vom gelöst witzigen Beginn langsam, aber unaufhaltsam in eine Tragödie driftende Geschichte in meisterhaft komponierten und ausgeleuchteten langen statischen Einstellungen. Viel Zeit lässt er dem Zuschauer sich in den Bildern umzusehen, sich in diesen Film einzufühlen, dessen Titel nicht nur René Clairs leichte Komödie von 1930 zitiert, sondern sich mit der hier beschriebenen Vereinsamung des alternden Individuums auch bewusst in Kontrast dazu setzen will und Kritik an der Kälte der modernen westlichen Welt gegenüber dem individuellen Schicksal üben will.

Zu den Favoriten für den "Goldenen Leoparden" darf "Sous les toits de Paris" folglich gezählt werden. Neben Bernard Émonts "Contre toute espérance" war diese bewegende Studie der rundeste und geschlossenste Film in einem insgesamt durchwachsenen Wettbewerb. Setzen sich freilich in der Jury die radikalen Filmemacher Romuald Karmakar und Jia Zhang-Ke und Saverio Costanzo durch, ist mit einer Auszeichnung von Masahiro Kobayashis "Ai no yokan - The Rebirth" zu rechnen – allerdings aufgrund der Tatsache, dass dieses minimalistische Drama kaum allgemeinen Konsens finden wird, eher mit einem Spezialpreis der Jury als mit dem Hauptpreis.

Für den "Goldenen Leoparden" bieten sich aber auch der unaufgeregte, bildschön fotografierte algerische Beitrag "La maison jaune" oder der handwerklich perfekt inszenierte und großen Drive entwickelnde, lange souverän die Balance zwischen Psychodrama und Horrorfilm wahrende US-Film "Joshua". an.