Marco Spitzar - "The Conditions of Time"

Marco Spitzars „Glue Nuggets“ sind in puncto Formen und Variationen, Schwerkraft und Materialkomposition Uhuereignisse der ersten Stunde. Zunächst sind es Klebeklumpen, die der Künstler in einem offenen System unter dem Titel „The Conditions of Time“ räumlich und zeitlich ins Klebnarrativ einfasst.

Bereits Bruno Gironcoli, ein Künstler in dessen Tradition der frühen filigranen Objekte und Zeichnungen auf Papier Marco Spitzar seine Kunst verortet, stellte fest, das Material an sich reiche völlig. Sein genuines Material ist der Kleb, mit dem er sich mit intensiver Leidenschaft befasst. Uhu, dessen Gravität ihn ein ums andere Mal in den Status nascendi seiner philosophischen Narrative führt, und ihn dort, am Grund allen Erzählens, poetisch in den attraktiven Duft hineinverführt. Wie seine „Glue Nuggets“ suchen die sich ihre Form selbst, eine Form, die sie in der Schubkraft der Zeit und der sich autopoietisch entwickelnden Physikalität und Gewichtsthermik fließend verformend nach unten fallen lässt. Diese kleinen „Bollen“, wie der Künstler, der sein Dornbirner Atelier nur scheinbar zufällig in einem Wasserturmhaus eingerichtet hat, sie gelegentlich auch nennt, als vergliche er sie mit den Bonbon-Karamelle-Bollen, die wir uns als Kinder an den familialen Gutsle oder Bolla Großmutterausgabestellen mit einem Augenaufschlag besorgten. Und, in der Tat, haben diese Kleb-Bollen neben den Genüssen auf der Zunge und im Gaumen noch andere Attraktionen zu bieten. Den Duft. Das nach Klebstoff riechende Lösungsmittel ist seiner chemischen Substanz nach Ethylacetat, der Ester aus Essigsäure und Ethanol, auch Essigsäureethylester oder kurz Essigester, EE, genannt. Dieser Geruch hat in geringen Konzentrationen leicht toxisch-stimulierende Wirkung, die durch das Kauen im Mund noch stärker wahrnehmbar wird. Im zeitlichen Verlauf, wenn sich der Uhu Klumpen in seine eigene Schwere abhängt, verliert der Klebstoff auch die wesentliche Intensität des Dufts, von dem ein bisschen etwas wieder zurückkommt, wenn man „das seelische Moment“ des Klebstoffs durch Abschaben oder Kneten wieder vitalisiert und dessen Konsistenz nach dem Hang zum Ausdehnen in einen anderen Aggregatzustand überführt, beispielsweise als Necklace oder Bracelet, wie wir in der Ausstellung in der Galerie. Z sehen können.

Es geht auch und vor allem um Zeit

Das in Zeitgefäßen und Gravitätsformen eingebettete feingliedrige Aushärten des Klebstoffs repräsentiert das Prozessuale des Narrativen, überwindet dabei die Chronosqualität der messbaren Zeit, den Blick zurück und die Perspektive nach vor. Damit erleben wir im Zuge der Auseinandersetzung mit Marco Spitzars Kunst des Klebstoffs eine Synthese aus Fülle und Mäßigung, die in der Qualität der Gedächtniskunst als Kunstleistung rezipierbar wird, weil sie zwischen erinnerndem Gedenken und Vergessen in eine produktive Spannung gerät. Zeit ist für den Künstler keine linear konzipierte Systematisierung von Bewegung im Raum im Sinne eines Uhrwerks, sondern wird erst durch das entfleuchende Geruchspotential, das härtende und aushärtende Schwerkraftthema in eine Aura des Preciosen gehoben, wie wir es aus dem faszinierenden Filmschaffen des britischen Regisseurs Peter Greenaway kennen. Dessen zentrales cinematorgrafisches Stilmittel ist die Collage, die er in „Verschwörung der Frauen“ / „Drowning by Numbers“ als eine makaber surreale Farb- und Lichtinszenierung komponiert. Wie Greenaways Filmbilder sich dem schnellen Blick entziehen, zieht Marco Spitzar die dem Kleb inhärenten Zeitfäden ins Innenleben der Glue Nuggets und setzt sie den sich ständig neu formatierenden „Conditions of Time“ aus, die damit das Ungesagte im Hintergrund mitschwingen lassen. Damit entsteht ein hauchdünner Schwebebalken, eine Art Grat, ein luxuriöser Formverzicht, der das Preciose in der Reduktion durchschimmern lässt.

Die Gesten im Kleinen

Wenn wir uns diese Nuggets genauer anschauen, als die "Bollen" der verklebten Welt, so wie wir alle geboren werden, nämlich „verklebt“, wie uns Marco Spitzar in seiner Kunstphilosophie seit langem erzählt, bemerken wir das innere Universum des Klebs in einer reichen Fülle, die bei Marcel Proust erst noch den langen Weg durch das Vergessen nehmen muss. Bei Marco Spitzar wächst mit den Einblicken in die Welt des Klebs der Echoraum der Erinnerung als ein dynamisches Uhrwerk, etwas angenehm Zähes, ohne Zeitperformance, ohne Stillstand, aber etwas wie eine entrückte Zeit. Keine Akte, aber ein Einverständnis, kein sexueller Akt, aber aufgeladen wie die starke physische Präsenz in den Filmen Pasolinis. Anschauliche Verdichtungen, eine Form innerer Ruhe, in der die Gesten im Kleinen liegen, keine plastischen Objekte mehr, nur mehr die Taktgebungen des Chello. Wie in Cantus in Memory of Benjamin Britten, eine Komposition des estnischen Komponisten Arvo Pärt aus dem Jahr 1977. Sie gilt als eines der bekanntesten Werke, ein frühes Beispiel für den von ihm entwickelten Tintinnabuli-Stil. Pärts Beziehung zur Stille ist prägend für seine Komposition, die mit Stille beginnt und mit Stille endet. Wie Pärt nutzt Marco Spitzar verschiedene Modi eines Systems. Es geht ihm in der Kunst um den Prozess. Es sei faszinierend, geduldig und ausdauernd den Prozessen beizuwohnen und daraus Erkenntnisse zu ziehen, die einem einseitigen Fortschrittsglauben widersprechen. Als Betrachter/in dieser Kunst spürt man jedoch den Zeitgewinn, der in diesem Fall größtes Vergnügen bereitet, ein bisschen so, als ginge man mit Marcel Proust im ersten Band seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ jener Episode aus dem Leben Swanns nach, in der er uns die Geschichte seiner großen Liebe zu Odette erzählt. „Fiktionales und Faktisches, Biografisches und Narratives, Abbild und Trugbild, Sprache und Bild verstülpen sich ineinander. Und: Wie es mit dem ‚Lauf der Dinge‘ läuft“, schreibt Max Lang über Marco Spitzar, nachzulesen in dem wunderbaren von Kurt Dornig gestalteten Katalogbuch.

Marco Spitzar
"The Conditions of Time"
21. April bis 21. Mai 2022

Ausstellungseröffnung: Do 21. April 2022, 19:30 Uhr
Es spricht: Peter Niedermair