Als Jahrmarktattraktion hat das Kino am Ende des 19. Jahrhunderts seine Anfänge genommen und in einem Zirkus, doch schon bald hat es sich davon emanzipiert, hat sich zu einer eigenen Kunstform entwickelt. Dieser Ursprungsort wurde später wiederholt als Handlungsort genützt, aber nicht nur die Attraktionen der Schausteller und die Show standen im Mittelpunkt, sondern auch - und vielfach vor allem - die Gefühle der Protagonisten. – Das Kinok in St. Gallen lädt im März zu einem Streifzug durch die Geschichte des Zirkusfilms ein.
Charlie Chaplin und sein Tramp - das war zweifelsohne eine Zirkusfigur par excellence: der Inbegriff des tragischen Clowns. Konkret mit dem Zirkus und dem Theater setzen sich zwei seiner Filme auseinander. In "Circus" (1928) lässt er seinen - wieder einmal - von der Polizei verfolgten Vagabunden in einem Zirkus Unterschlupf finden. Eine unerfüllte Liebe zur Tochter des Zirkusdirektors steht im Zentrum, aber auch eine hinreißende Szene mit einem Zauberer, eine Szene in einem Löwenkäfig oder ein Hochseilakt mit einem Affen lassen "Circus" als einen von Chaplins geschlossensten Filmen erscheinen. Fast 25 Jahre später ließ dann Chaplin in "Limelight" (1952), seinem vielleicht privatesten Film, mit dem Varietékomiker Calvero auch sich selbst als Komiker von der Bühne Abschied nehmen.
In krassem Gegensatz zu Chaplins Wärme und Milde steht Tod Brownings "Freaks" (1932), ein Film, der "nach allen Regeln der Industrie nie hätte entstehen dürfen und mit Sicherheit unwiederholbar" (Buchers Enzyklopädie des Films, S.273) ist. Browning ließ Mißgestaltete aus einem Zirkus, Liliputaner, Menschen ohne Arme und Beine und siamesische Zwillinge in seinem Film spielen. Doch diese entpuppen sich im Verlauf von "Freaks" als warmherzige Geschöpfe, während sich hinter der Maske der blendend schönen Trapezkünstlerin Cleopatra Gemeinheit und Gier verbergen. An ihr rächen sich die "Freaks" aber in diesem grauenerregenden und gleichzeitig humanen Film furchtbar.
Nicht von einer deformierten, aber von einer kranken und erschöpften und von einem Zirkusmanager ausgebeuteten Frau erzählt Max Ophüls in seinem letzten Spielfilm. In "Lola Montez" (1955) beantwortet die Titelfigur in der Arena vor dem lüsternen Publikum Fragen zu ihrem skandalumwitterten Leben. Die Rückblenden, die ihre unglückliche Ehe und ihre Affären mit Franz Liszt und König Ludwig I. von Bayern schildern, werden dabei wie Zirkusnummern inszeniert. Nicht Hochseil- oder Tiernummern, sondern die Vermarktung eines Menschenlebens als Zirkusattraktion, Sensationsgier und Ausbeutung interessiert und kritisiert Ophüls in seinem trotz Verstümmelung durch den Produzenten grandiosen Meisterwerk.
Der Zirkusfilm als große Show, als Jarhrmarktattraktion, aber auch als Arena für Melodramen mit großen Gefühlen blühte vor allem in den 1910er und 1920er Jahre in Europa ebenso wie in den USA. Allein 1928 soll Hollywood 14 Zirkusfilme ins Kino gebracht haben.
Auch in Deutschland entstanden in den 1920er und 1930er Jahren berühmte Zirkusfilme wie Ewald André Duponts "Varieté" (1925) und "Salto Mortale" (1930) sowie Harrry Piels "Menschen, Tiere, Attraktionen" (1938). Kolportage ist zwar das Eifersuchtsdrama unter drei Artisten, das Dupont in "Varieté" erzählt, die formale Gestaltung macht den Film, in dem neben Emil Jannings in der Hauptrolle auch das damals berühmte Artistentrio "Die drei Codonas" zu sehen ist, aber zu einem Meisterwerk des Stummfilms. Dupont arbeitet nämlich nicht nur souverän mit Rückblenden, sondern Kameramann Karl Freund entfesselte bei den halsbrecherischen Nummern in der Zirkuskuppel auch die Kamera, sodass der Zuschauer Teil des Geschehens wird, und arbeitete zudem virtuos mit Licht und Schatten.
In der Schweiz stellte Max Haufler in "Menschen, die vorüberziehen" (1942) in detailfreudiger Inszenierung einer dörflichen bäuerlichen Gemeinschaft das fahrende Volk der Zirkusleute gegenüber Beide Welten lässt Haufler dabei nebeneinander stehen und gesteht auch dem Lebensentwurf der Zirkusleute seinen Platz zu.
Das große Hollywoodkino, bei dem zu allen Zeiten Spektakel und große Show in höchstem Ansehen standen, hat sich dagegen für dieses Milieu in der Tonfilmzeit kaum mehr interessiert. Zu wenig Interesse des Publikums am europäisch geprägten Zirkus und eine Vorliebe für andere Formen der Unterhaltung - und somit auch nur geringe Erfolgschancen an der Kinokasse - mögen die Gründe dafür sein.
(Fast) singulär steht somit die erste Hollywoodproduktion des durch "The Third Man" (1948) berühmt gewordenen Engländers Carol Reed da. In seinem starbesetzten Melodram "Trapez" (1956) kämpfen Burt Lancaster und Tony Curtiz am Hochseil und mit Salto Mortale um eine von Gina Lollobridgida gespielte ehrgeizige Artistin.
Vor allem Unterhaltung und eine Flucht aus dem Alltag wollen dabei sowohl die deutschen Filme als auch die Hollywoodproduktion bieten. Show und Glamour, spektakuläre Artistennummern und eine reichlich konstruierte Liebesgeschichte, die dabei die wesentlichen Ingredienzen waren, boten aber wiederum den Marx Brothers einen geradezu idealen Tummelplatz für ihre anarchistischen Scherze ("At the Circus", 1939).
Ein revolutionärer Raum ist der Zirkus dabei in gewissem Maße, werden doch bei den Vorstellungen die bürgerlichen Ordnungen außer Kraft gesetzt und speziell der Clown genießt sprichwörtliche Narrenfreiheit und darf seine Scherze mit Höhergestellten treiben. Indem freilich das Geschehen immer als zeitlich und räumlich begrenzte Show markiert ist, geht vom Zirkus letztlich keine revolutionäre, sondern rein unterhaltende Wirkung aus.
Den Widerspruch zwischen Zirkuswelt und gesellschaftlicher Realität erfährt auch der Protagonist in Roschdy Zems "Chocolat" (2015). Einerseits steigt nämlich der schwarze Kubaner Rafael Padilla um 1900 über Auftritte in einem französischen Zirkus zum Star des Pariser Varieté auf, andererseits wird rassistisches Denken gerade in den Clownnummern gepflegt und zementiert. Zem zeigt aber auch auf, dass Padilla trotz seines Ruhms auch im Alltag dem Rassismus der weißen bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt war, die ihn nie als Zugehörigen, sondern immer als Lachobjekt betrachtete.
Eine große Liebeserklärung an die vom Sterben bedrohte Welt des Zirkus gelang dagegen Federico Fellini mit dem als Reportage angelegten "I Clowns" (1970). Ganz bei sich ist hier der Italiener, dessen Filme in ihrer überschäumenden Fabulierfreude, ihrer Lust am Fantastischen und Grotesken immer etwas Zirkushaftes hatten und der sich schon in seinem ersten Spielfilm "Luci del varietà" (1950) mit dem Leben reisender Varietékünstler beschäftigt hatte. Fellini lässt den Zuschauer in die Zirkuswelt eintauchen, erinnert sich an clowneske Begegnungen aus seiner Kindheit und Jugend und präsentiert mit scheinbar dokumentarischer Kamera Auftritte berühmter französischer und italienischer Clowns.
Wie der Zirkus – wohl auch durch die ständig wachsende Konkurrenz vielfältiger anderer Unterhaltungsmöglichkeiten – immer mehr verschwindet, so sind auch Zirkusfilme fast ausgestorben. Vereinzelt entstehen sie aber doch immer wieder wie 2011 "Water for Elephants" von Francis Lawrence, der aber bezeichnenderweise in der Vergangenheit, konkret in den 1930er Jahren spielt, als der Zirkus noch blühte, oder Michael Graceys "The Greatest Showman" (2017). Auch dieses Biopic blickt freilich mit der Lebensgeschichte des im 19. Jahrhundert lebenden Zirkuspioniers P.T. Barnum in die Vergangenheit zurück. Gerade dieser retrospektive Blick der neueren Zirkusfilme macht eindrücklich bewusst, wie sehr die Zirkuswelt aus dem heutigen Leben und Alltag verschwunden ist.