Locarno 2010: Junges Kino und zukunftsweisende Neuerungen

Das Programm des 63. Filmfestivals von Locarno (4. – 14.8.), das erste unter der künstlerischen Leitung von Olivier Père, unterscheidet sich abgesehen von einer Reduktion der gezeigten Filme vom Konzept her kaum von den vergangenen Jahrgängen. Wie zuletzt dominieren auch heuer Newcomer und (noch) unbekannte Regisseure nicht nur den Wettbewerb, sondern auch das Programm der Piazza Grande. Auffallend sind aber die Neuerungen im organisatorischen Bereich.

Einen neuen Anstrich verleiht der neue künstlerische Leiter Olivier Père dem Filmfestival von Locarno weniger durch die Filmauswahl als durch organisatorische Änderungen. Dass die alten Pressefächer durch eine elektronische Mailbox ersetzt werden, dürfte der Allgemeinheit kaum auffallen, wohl aber die völlige Neugestaltung des seit 20 Jahren mehr oder weniger unveränderten Festivalkatalogs: Nicht nur kleiner und handlicher wird er sein, sondern auch in zwei Versionen – einer englisch-französischen und einer italienisch-deutschen – angeboten werden. Ziel dieser Neuerungen ist es die Umweltbelastungen zu minimieren, soll doch der neue Katalog eine Papierersparnis von 50 Prozent bringen. Weitere Maßnahmen in diesem Sinne sind die Verwendung von FSC-zertifiziertem Papier, die Verwendung von "elettronatura"-zertifizierter Energie und eine Festivaltasche aus wiederverwertetem PET.

Kaum neue Ansätze lassen sich dagegen vom Papier her bei der Filmauswahl feststellen. Preisgekröntes von anderen Festivals oder große Vorpremieren, über die Père im Vorfeld einmal nachgedacht hat, sucht man vergeblich im Piazza-Programm. Nur Daniele Luchettis schon am Abend vor dem eigentlichen Festivalbeginn gezeigter "La nostra vita" lief schon im Wettbewerb von Cannes. Auch die eine oder andere amerikanische Großproduktion vermisst man, stattdessen setzt der Franzose, der sich als Leiter der renommierten "Quinzaine des realisateurs" von Cannes einen Namen gemacht hat, auf Weltpremieren europäischer Produktionen. Ein große Kiste wie Darren Aronofskys "Black Swan", mit dem heuer die Biennale von Venedig eröffnet wird, hätte sicher auch dem Programm von Locarno nicht geschadet, aber solche Kaliber sind eben für das "größte unter den kleinen" oder das "kleinste unter den großen" Festivals nicht zu bekommen.

Fortgesetzt wird vom neuen künstlerischen Leiter auch die von seinem Vorgänger gepflegte Forcierung des Schweizer Films. Mit Daniel von Aarburgs Biopic über den Schweizer Radrennfahrer Hugo Koblet ("Hugo Koblet – Pédaleur de Charme") sowie Paul Rinikers "Sommervögel" ist die Eidgenossenschaft mit zwei Filmen auf der 8000 Zuschauer fassenden Piazza Grande vertreten, daneben mit zwei weiteren im Wettbewerb und einem im Wettbewerb "Cinéastes du present". Dazu kommt die Verleihung eines Ehrenleoparden an Alain Tanner und wie gewohnt eine Auswahlschau aktueller Schweizer Filme, darunter nicht nur der Gewinner des Schweizer Filmpreises "Coeur animal" und Silvio Soldinis "Cosa voglio di più", sondern auch Jean-Luc Godards "Film Socialisme".

Die einzig bekannten Regisseure im Piazza-Programm sind der Franzose Benoit Jacquot, der mit "Au fond des bois" einen Krimi vorlegt, und der Israeli Eran Riklis, der nach den menschlichen Tragikomödie "The Syrian Bride" und "Lemon Tree" mit "The Human Resources Manager" nach Locarno kommt. Auf sehr gute Kritiken verweisen kann schon der deutsche Thriller "Das letzte Schweigen", unbeschriebene Blätter sind dagegen die anderen Filme, darunter der islandische "Kóngavegur", in dem Daniel Brühl eine Hauptrolle spielt.

Im Vergleich zum Piazza-Programm kann der Wettbewerb geradezu mit zahlreichen alten Bekannten aufwarten. Katalin Gödrös, die vor einigen Jahren mit dem lakonischen Roadmovie "Mutanten" auf sich aufmerksam machte, ist mit "Songs of Love and Hate" im Rennen um den Goldenen Leoparden vertreten. Als FilmemacherInnen mit kompromissloser und eigenwilliger Filmsprache haben sich in ihren ersten Filmen auch die Französin Isild le Besco, die 2005 für ihr Spielfilmdebüt "Demi-Tarif" und 2008 für "Charly" beim Linzer Filmfestival Crossing Europe mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde, der Ungar Benedek Fliegauf ("Womb") und Pia Marais ("Im Alter von Ellen"), die 2007 für ihr Debüt "Die Unerzogenen" in Rotterdam den Tiger Award erhielt, erwiesen. Gleiches gilt auch für den Kanadier Denis Côté ("Curling"), der 2008 in Locarno für "Elle veut le chaos" den Regiepreis erhielt.

Nicht nur von diesen Regisseuren, sondern auch vom Franzosen Christophe Honoré ("Homme au bain") und zumal vom Amerikaner Bruce LaBruce, der seinen "LA.Zombie" in den Wettbewerb schickt, sind Filme zu erwarten, die wohl nicht immer begeistern, aber in der Verweigerung gegenüber dem Mainstream immerhin aufregend sein könnten. Dieser Mut zum Extremen und Experimentellen, durch den sich das erste Wettbewerbsprogramm Olivier Pères - die Realität muss es erst belegen - von dem seines Vorgängers Fréderic Maire unterscheiden könnte, zeigt sich auch in der Programmierung des fast sechsstündigen chinesischen Dokumentarfilms "Karamay". Noch mehr könnten damit freilich die Grenzen zwischen dem Hauptwettbewerb und dem ursprünglich für experimentellere Filme geschaffenen Parallelwettbewerb "Cinéastes du present" verschwimmen.

Wer bei diesem Programm, das mit beinahe jedem Film aus Neue überraschen und dabei wohl auch immer mal wieder verärgern oder enttäuschen wird, auf Nummer sicher gehen will, sollte sich auf die Retrospektive einlassen, die dem großen Ernst Lubitsch gewidmet ist. Elegante Unterhaltung auf höchstem Niveau ist hier garantiert, wenn eine polnische Theatergruppe mit Maskeraden die Nazis düpiert ("To Be or Not To Be"), ein Casanova im Jenseits sein Leben Revue passieren lässt ("Heaven Can Wait") oder die Garbo als linientreue steife sowjetische Spionin dem Charme der Seinemetropole Paris und ihrer Bewohner erliegt ("Ninotschka").