Locarno 2009: Höhepunkte am Schluss - Goldener Leopard für "She, a Woman"

Von einem großen Jahrgang wird man im Zusammenhang mit dem 62. Filmfestival von Locarno wohl kaum sprechen. Mehr auf Weltpremieren als auf starke Filme setzte der scheidende künstlerische Direktor Frédéric Maire beim Piazza-Programm, als kunterbunte Wundertüte erwies sich die Reihe "Cinéastes du Présent" und dass der tagelang dahin dümpelnde Wettbewerb gegen Ende doch noch zulegte, spiegelt sich in den preisgekrönten Filmen, die großteils erst an den letzten Festivaltagen liefen.

Schon während des Vorspanns sorgt treibende Musik für großen Drive und mitreißende Spannung. 116 schier atemlose Minuten lang wird den Zuschauer die Jagd zweier Cops auf einen Geldfälscher bei der Stange halten, weil der Regisseur genau weiß, was er erzählen will und wie er es erzählen muss, wie man die Handlung vorantreibt, geschickt stets neue Wendungen einbaut, die Handlung im Großraum Los Angeles verankert und trotz furioser Actionszenen die Figurenzeichnung nicht zu kurz kommen lässt. – "To Live and Die in L.A." von William Friedkin, der in Locarno mit einem Ehrenleoparden ausgezeichnet wurde, war zweifellos der Höhepunkt des Piazza-Programms, ein Film, der seit seiner Uraufführung vor 25 Jahren nichts von seiner Klasse verloren hat. Schwer vorstellbar ist dagegen, dass nach einem der Filme, die heuer auf der Piazza ihre Uraufführung erlebten, in fünf Jahren noch ein Hahn kräht.

Das große Kino, für das die rund 8000 Zuschauer fassende Piazza Grande von Locarno, ein idealer Ort ist, fand heuer nicht statt. Mehr Filmchen als Filme wurden geboten vom holprigen Nazidrama "Unter Bauern" bis zu Christoph Schaubs Dialogstück "Giulias Verschwinden", das mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde.

Der Wettbewerb begann viel versprechend mit dem südafrikanischen Drama "Shirley Adams"n, brachte dann aber schon mit den folgenden Filmen von Masahiro Kobayashi ("Wakaranai - Where Are You?") und Bernard Émont ("La donation") leichte Enttäuschungen, um dann tagelang wenig befriedigend dahin zu dümpeln. Erst am Ende ging es dann fast Schlag auf Schlag mit dem Manga "Summer Wars", das bei der Preisverleihung (Liste der Preisträger)leider unberücksichtigt blieb, Xiaolu Guos "She, A Chinese" und Urszula Antoniaks "Nothing Personal".

Auffallend ist dabei, dass nicht nur vor der Kamera Frauen im Mittelpunkt standen, sondern auch hinter der Kamera Frauen als Regisseurinnen für Höhepunkte sorgten. Die in China geborene und in England lebende Xiaolu Guo erzählt in "She, a Chinese", der mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, in fünfzehn Kapiteln von der jungen Chinesin Mei. Aus der tristen Provinz bricht sie nach einer Vergewaltigung aus, findet in einer Großstadt zunächst einen Job in einer Textilfabrik und dann in einem Frisiersalon und landet schließlich in England, wo sie sich auch irgendwie durchschlägt.

Im Grunde ist "She, a Chinese" übervoll und bietet Stoff für mindestens ein halbes Dutzend Filme, besticht aber gerade durch die episodische Struktur, bei der nur Ausschnitte aus einem Leben geboten werden. In ungemein dichter Fülle skizziert Guo so prägnant Probleme und fängt gleichzeitig mit ungekünstelter, dokumentarisch-improviert wirkender Filmsprache authentisch die Welt von heute ein. Durch originelle Kapitelüberschriften sowie die frische und vitale Machart verbreitet der Film dabei trotz des harten Schicksals der Protagonistin nicht Depression, sondern strahlt eine Leichtigkeit aus, die mit dem Überlebenswillen Meis bestens korrespondiert.

Ein starker Film gelang auch der polnischstämmigen Urszula Antoniak mit ihrem Debüt "Nothing Personal", das neben dem Preis für das beste Erstlingswerk, dem Darstellerpreis für Lotte Verbeek und dem Preis der Jugendjury auch bei den unabhängigen Juries mehrfach ausgezeichnet wurde (FIPRESCI, Preis Art & Essai CICAE).

Ganz reduziert, beinahe als Zweipersonenstück erzählt Antoniak von einer jungen Frau, die nach dem Ende einer Beziehung ihre Heimat verlässt, durch Irland trampt und die Einsamkeit sucht. Als sie bei einem in einem abgelegenen Haus lebenden verwitweten Bauern unter der Bedingung, dass keine Fragen über Persönliches gestellt werden, gegen Verpflegung einen Job annimmt entwickelt sich ganz langsam eine sanfte Beziehung.

Großartig eingebettet in die irische Landschaft, ihre Farben und Naturgeräusche ohne diese selbstzweckhaft auszustellen, sondern sie als Resonanzboden für die innere Befindlichkeit der Protagonisten benutzend erzählt Antoniak leise, aber eindringlich von Schmerz und seiner Überwindung, von der Notwendigkeit der Einsamkeit und Ruhe um zu sich zu finden, aber auch vom Glück und dem Tröstlichen menschlicher Nähe. Das ist genau in der Beobachtung, unprätentiös, unsentimental und voller Poesie, weil Bild- und Tonsprache hier kongenial zum Inhalt passen.

Dank der Kinoqualitäten, über die Antoniaks Debüt verfügt, könnte "Nothing Personal" durchaus einen Verleiher finden, während mehrere Wettbewerbsbeiträge wohl schnell wieder in einer Schublade verschwinden oder bestenfalls vom Fernsehsender, der den jeweiligen Film koproduziert hat, ausgestrahlt werden werden. Aber nicht nur die Qualität vieler Wettbewerbsfilme ließ sehr zu wünschen übrig, auch das Fehlen klarer Konturen bei den einzelnen Sektionen des Festivals ist unerfreulich.

Als wahre Wundertüte erwies sich beispielsweise, die per Definition radikalen und innovativen Werken vorbehaltene Reihe "Cinéastes du presént". Neben wirklich radikalen Werken wie dem dänischen "Warriors of Love", der sich höchst abstrakt mit sexuellem Missbrauch auseinandersetzt, fand sich hier mit Valérie Donzellis "La reine des pommes" beispielsweise auch eine zwar ungemein frische, federleichte, aber keinesfalls innovative französische Komödie um die Liebesprobleme einer jungen Frau, die genauso gut, wenn nicht besser in den Wettbewerb gepasst hätte.

Und auch "Köprüdekiler – Men on the Bridge" wirkte in dieser Schiene etwas deplatziert, auch wenn dieser türkische Film zu den Höhepunkten des Festivals zählte. Ganz unprätentiös und undramatisch erzählt Asli Özge hier parallel von einem jungen Rosenverkäufer, einem Polizisten und einem Taxifahrer, die alle zumindest zeitweise auf der Bosporusbrücke arbeiten. Ohne Anfang und Ende sind die drei Geschichten, in denen die von Laien gespielten Protagonisten einfach einige Tage in ihrem Leben begleitet werden. So kommen dem Zuschauer einerseits die Figuren rasch näher, andererseits bietet "Men on the Bridge" im dokumentarischen Gestus und im genauen Blick für den Alltag auch einen präzisen Einblick in die vielfältigen Probleme der Türkei.

Gespannt sein darf man somit, ob sich nächstes Jahr unter dem neuen künstlerischen Direktor Olivier Père etwas ändern wird. Zu verbessern gäbe es sicher noch einiges und wenn man wirklich mit Berlin, Cannes, Venedig und San Sebastian mithalten und nicht in die Zweitklassigkeit abrutschen will, dann muss sich gewiss etwas tun.


Preisträger des 62. Filmfestivals von Locarno