Locarno 2009: Starker Auftakt des Wettbewerbs

Formal in ihrer Arbeit mit der Handkamera und der radikalen Fokussierung auf den jeweiligen Protagonisten ähnlich, erzählen der Südafrikaner Oliver Hermanus in "Shirley Adams" von einer aufopferungsvollen Mutter und der Japaner Masahiro Kobayashi in "Wakaranai – Where Are You?" von einem verlorenen Jugendlichen.

Auf Schattenseiten der Gesellschaft und des Lebens blicken der 25-jährige Südafrikaner Oliver Hermanus und der Japaner Masahiro Kobayashi, mit deren Filmen beim 62. Filmfestival von Locarno der Wettbewerb um den Goldenen Leoparden eröffnet wurde. Gemeinsam ist den Filmen die radikale Fokussierung auf den jeweiligen Protagonisten und eine Handkamera, die speziell bei Hermanus in einem an die belgischen Brüder Dardenne erinnernden Stil hinter der von Denise Newman herausragend gespielten Shirley Adams hinterherhetzt. Andererseits fehlen aber auch lange statische Einstellungen nicht, in denen ungemein intensiv die aufopferungsvolle Pflege des querschnittgelähmten etwa 17-jährigen Sohns Donovan oder eine Geburtstagsfeier, bei der alle fröhlich sind, nur Donovan ernst bleibt, eingefangen werden.

Seit Donovan auf dem Heimweg von der Schule vom Mitglied einer Gang angeschossen wurde, ist er an den Rollstuhl gefesselt. Trotz der Fürsorge seiner Mutter möchte er lieber sterben als leben, sieht er doch, dass er nie das Leben seines Freundes oder das seiner Physiotherapeutin führen wird können.

Mit einem Selbstmordversuch beginnt denn auch Hermanus" erster langer Spielfilm. Noch einmal kann ihn aber die Mutter, die mit allem Einsatz für ihren Sohn kämpft und für die Pflege den Job aufgegeben hat, den Sohn retten. So sanft das Gesicht von Denise Newman sein mag, in jeder Einstellung sieht man nicht nur, sondern spürt man förmlich die Erschöpfung und die Last, die allein auf ihr lastet, da der Mann mit der Behinderung des Sohnes nicht fertig wurde und die Familie verlassen hat.

Leicht könnte so eine Geschichte in Rührseligkeit und Sozialkitsch abgleiten, doch Hermanus erzählt nüchtern und unsentimental. Nur indirekt und sehr reduziert lässt er beispielsweise über frühmorgendliche Schüsse in der Ferne das Milieu einfliessen, vermittelt aber doch über ebenso knappe wie prägnante Szenen einen Eindruck des Klimas von Armut und der sich daraus entwickelnden Gewalt, das im Kapstadter Viertel herrscht, in dem Shirley wohnt. Diese Konzentriertheit und Ernsthaftigkeit der Erzählweise, in der das persönliche Engagement des jungen Regisseurs spürbar wird, verleiht diesem Spielfilmdebüt packende Kraft. Und bei aller Trostlosigkeit gelingt es Hermanus doch seinen Film überzeugend mit einer Einstellung enden zu lassen, die Hoffnung macht und Befreiung andeutet.

Auch der Japaner Masahiro Kobayashi fokussiert in "Wakaranai – Where Are You?" ganz auf seinem Protagonisten. Wie Shirley Adams ist auch der 17-jährige Ryo ganz auf sich gestellt: Die Mutter liegt im Krankenhaus, der Vater hat schon vor Jahren die Familie verlassen. Um die Krankenhausrechnungen bezahlen zu können, unterschlägt der Teenager, von dessen Traum von einer Karriere als Profifussballer nur noch Poster in seinem Zimmer geblieben sind, Lebensmittel im Supermarkt, in dem er an der Kasse arbeitet. Wie es hier am nötigsten fehlt, Ryo kaum einmal seine Grundbedürfnisse befriedigen kann, macht Kobayashi in sich wiederholenden Szenen sichtbar, in denen der Teenager gierig sein Nudelgericht hinunter schlingt.

Eindringlich evoziert Kobayashi mit fast durchgängigem Regenwetter und verwaschenen Farben, aus denen nur Ryos rotes T-Shirt heraussticht, die Tristesse. Immer tiefer gerät der Teenager dabei in die Spirale der Not, Verlorenheit und Einsamkeit. Zunächst wird er im Supermarkt gefeuert, dann stirbt seine Mutter. Offene Rechnungen, nicht einmal die für die Beerdigung kann er bezahlen und so begibt er sich auf die Suche nach seinem Vater.

Ein sanftes Lied am Beginn, zu dem die Leinwand schwarz bleibt, erzählt von der Hoffnung dass der harte Weg der Jugend vom Dunkel über Einsamkeit ans Licht führen möge. Am Ende wird sich mit der Wiederaufnahme dieses Lieds der Kreis schliessen und wird Kobayashi wie Hermanus ein – vielleicht auch nur geträumtes – Bild der Erlösung setzen. Dazwischen aber wird auf Musik verzichtet. Wie Hermanus folgt er seinem Protagonisten immer wieder im Rücken lange auf seinen Gängen durch die Strassen oder durch den Wald zu einem am Meer liegenden Ruderboot, in das er sich wie in den Mutterbauch oder vielleicht auch wie in einen Sarg legt.

Näher kommt aber der Regisseur und auch der Zuschauer dem Jungen weder in diesen Fahrten noch in langen statischen Einstellungen, in denen Gespräche mit der Mutter, mit dem Leiter des Krankenhauses oder dem Leichenbestatter festgehalten werden. So rigoros und konsequent "Wakaranai" in der formalen Gestaltung auch sein mag, so wenig gewinnt er doch in der lakonisch-repetitiven Erzählweise Dichte und lässt das Mitgefühl mit dem verlorenen Teenager nicht zunehmen, sondern eher abflauen. Und so interessant und erschütternd im Grunde der Blick auf eine andere Seite der japanischen Gesellschaft, die Kritik am Sozialsystem und am Materialismus sein mögen, so sehr bleiben diese sozialkritischen Akzente in "Wakaranai" letztlich platt.