Locarno 2008: Durchwachsen wie das Wetter

17. August 2008
Bildteil

Nach Masahiro Kobayashis "Ai no yokan" im letzten Jahr hat die Jury auch beim heurigen Filmfestival von Locarno mit dem mexikanischen "Parque vía" den sperrigsten und formal radikalsten Film des Wettbewerbs ausgezeichnet. – Und als Resümee des Festivals könnte man wohl feststellen, dass das Programm insgesamt so durchwachsen war wie das Wetter.

Der Hauptpreis an "Parque vià" geht in Ordnung, Überraschungen gab es bei den in Hülle und Fülle vergebenen Preisen dennoch. Auffallend ist so, dass Mijke de Jongs "Katja´s Sister" ganz leer ausging und das wunderbar lakonische koreanische Roadmovie "Daytime Drinking" mit einer "Besonderen Erwähnung" abgespeist wurde.

Dass der polnische "33 Scenes form Life", in dem Malgoska Szumowskas immerhin bewegend eine schon oft erzählte Geschichte von einer sorglosen Familie, deren Leben sich durch die Nachricht von der Krebserkrankung der Mutter verändert, nochmals aufbereitet, mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, kann man ja noch verstehen und vertreten, aber der Regiepreis für den Kanadier Denis Côté dürfte doch vielerorts in erster Linie Kopfschütteln hervorrufen.

Zwar sind die Schwarzweißbilder in "Elle veut le chaos" bestechend, doch den Titel könnte man auch als Programm verstehen. Denn auch wenn die Evokation von Einsamkeit, Frustration und Aggression in der kanadischen Provinz Côté atmosphärisch dicht gelingt, lassen sich die Einzelteile nicht zu einer Geschichte fügen, und die Motivationen der Figuren bleiben weitgehend im Dunkeln.

Der Wettbewerb bot zwar durchaus interessante Filme, was fehlte waren jedoch die zwei bis drei herausragenden Werke, die alles überstrahlen, und die Flops, die man bei so einem Festival auch immer in Kauf nimmt, vergessen lässt.

Klarer als in früheren Jahren, aber immer noch nicht wirklich überzeugend ist die Trennung der Sparten "Wettbewerb" und "Cinéastes du présent". Wieso der Essayfilm "Sleep Furiously" im Hauptbewerb, "Prince of Broadway" dagegen in der Parallelsektion läuft, bleibt ebenso ein Rätsel, wie die Programmierung von Fernand Melgars inhaltlich zweifellos interessantem, aber formal ganz konventionellem Dokumentarfilm über das Schweizer Durchgangslager für Asylbewerber ("La Forteresse") in der Reihe "Cinéastes du présent", die laut Katalog "radikale und innovative Werke – sei es inhaltlich, sei es formal" zeigt. Hinter die Mauern des Lagers mag man ja sonst kaum sehen, aber als inhaltlich innovativ kann man "La Forteresse" deswegen wohl noch kaum bezeichnen.

Unübersehbar lastet der Schatten der Biennale von Venedig, die gerade mal 14 Tage nach Ende des Tessiner Festivals beginnt, über diesem kleinsten unter den großen Filmfestival. In Locarno ist man zwar auf erste und zweite Spielfilme fokussiert, aber auch deren Regisseure und Produzenten gehen in der Regel – sofern sie eingeladen werden – lieber an den Lido von Venedig. Konnte man in den 1980er Jahren noch Filme, die in Cannes den Preis für das beste Debüt wie Jim Jarmuschs "Stranger than Paradise" auch noch im Wettbewerb von Locarno zeigen, so erlauben dies die heutigen Festivalvorschriften nicht mehr.

Zudem wird die Spielwiese Locarnos zunehmend dadurch kleiner, dass eben die drei Big Player Berlin, Cannes und Venedig zu den großen Namen vermehrt auch Newcomer im Hauptwettbewerb beimengen und speziell Venedig auch Filme, auf die Locarno schon ein Auge geworfen hat, dann doch noch wegschnappt.

Noch deutlicher als im Wettbewerb sind die Probleme bei der Programmierung der Open-Air-Vorstellungen der Piazza Grande zu erkennen. Da soll nicht nur großes Kino für 5000 bis 8000 Zuschauer, sondern wenn möglich auch Welt- oder zumindest internationale Premieren geboten werden. Besonders Letzteres führt dazu, dass man eben oft auch auf zweite Wahl zurückgreifen muss, denn die wirklich großen Filme angelt sich eben Venedig.

Mit "Nordwand" lief auf der Piazza immerhin ein packender Bergfilm und mit Denis Rabaglias "Marcello Marcello" eine in sich stimmige, aber hemmungslos kitschige Komödie, die nicht nur in den späten 1950er Jahren spielt, sondern auch im Stil der italienischen Komödien dieser Zeit inszeniert ist. Wenn aber ein italienischer Bestsellerautor wie Alessandro Baricco die Welturaufführung seines Regiedebüts Locarno überlässt, sollte man stutzig werden. Wohl nur weil Venedig "Lezione 21" abgelehnt hat, kam das Festival am Lago Maggiore zu dieser Ehre, die man im nachhinein als höchst zweifelhaft bezeichnen muss. Denn schlimmes Kunstgewerbe, hölzern Bildwelten und Stil Peter Greenaways kopierend, ist Bariccos zwischen mindestens drei Zeit- und Erzählebenen wechselnde Auseinandersetzung mit Entstehung und Rezeption von Beethovens Neunter Sinfonie. – Ins Kino wird es diese Kopfgeburt wohl kaum schaffen.

Der Sprung wird der höchst unterhaltsamen britischen Coming-of-Age-Geschichte "Son of Rambow" zweifellos gelingen, doch dieser Film ist andererseits auch nicht mehr ganz taufrisch und läuft parallel zum Festival schon bei diversen Schweizer Open-Airs. Und auch der Crossover zwischen Science-Fiction und Fantasyfilm "Outlander" erwies sich kaum als Glücksgriff, handelt es sich dabei doch weniger um großes Kino als vielmehr um die aus dessen Versatzstücken zusammengesetzte Trash-Version.

Leicht ist es sicher nicht ein Festival zu programmieren und gerade Locarno, dem im dicht gedrängten Festival-Kalender nicht nur Venedig, sondern auch Toronto und San Sebastian die besten Häppchen wegschnappen, hat es besonders schwer. – Und je mehr Festivals es gibt, desto kleiner wird das Stück, das man sich vom kleinen Kuchen der wirklich herausragenden Filme abschneiden kann. - Das Ambiente am Lago Maggiore stimmt zweifellos, das Festival aber auch mit einem entsprechenden Programm zu füllen ist eine Aufgabe um die Festivaldirektor Frédéric Maire und sein für 2010 zu bestimmender Nachfolger nicht zu beneiden sind.