Locarno 2008: Jugendliche Alltagsflucht

13. August 2008
Bildteil

Ein klarer Favorit für den Goldenen Leoparden lässt sich beim 61. Filmfestival von Locarno bislang noch nicht ausmachen, aber immerhin finden sich im Wettbewerb mehrere Filme, die Mut zu einer entschiedenen Filmsprache zeigen und nach dem ernsten Auftakt werden auch hie und da leichtere Töne angeschlagen.

Mit nur 10.000 Dollar hat der Koreaner Noh Young-seok sein Spielfilmdebüt "Daytime Drinking" realisiert. Der Titel ist Programm, denn außer Trinken und Nudeln Essen passiert während der knapp zwei Stunden nicht allzu viel. Vier junge Männer beschließen im Suff am nächsten Tag einen mehrtägigen Ausflug zu machen, doch am vereinbarten Treffpunkt findet sich nur Hyuk-jin ein, der hofft durch den Trip seinen Liebeskummer verdrängen zu können.

Allein muss er sich durchschlagen und so beginnt für ihn eine fünftägige von Missverständnissen durchzogene absurd-komische Odyssee. Da landet er zunächst im falschen, von einem äußerst unfreundlichen Herrn geführten Hotel, beschließt an der Bushaltestelle, verleitet durch eine Frau, ans Meer zu fahren, wo er einem Pärchen begegnet, das ihn zuerst betrunken macht, ihm Drogen verpasst und dann in Unterhosen auf einer winterlichen Landstraße aussetzt. Nach Stunden in der Kälte wird Hyuk-jin zwar von einem LKW-Lenker mitgenommen, doch auch mit diesem gibt es bald Probleme.

In langen halbtotalen Einstellungen, die den Schauspielern viel Raum und Zeit lassen Figuren und Situationen zu entwickeln erzählt Noh. Wie in den frühen Filmen von Jim Jarmusch reihen sich so lakonisch kleine Episoden aneinander, die durch Missverständnisse und überraschende Wendungen trotz der äußeren Ereignislosigkeit ausgesprochen kurzweilig bleiben. Noh dramatisiert nicht, sondern schaut nur distanziert den Figuren beim Trinken, Essen und belanglosen Gespräch zu. Ganz kunstlos und einfach wirkt dies, gerade daraus bezieht dieses Kleinod aber eine Natürlichkeit und Frische, die den Geist ähnlich belebt und anregt wie frisches Quellwasser den Körper.

Aus ihrem tristen Alltag in einem Vorort von Dublin brechen auch zwei kaum mehr als 10 Jahre alte Kinder in Lance Dalys "Kisses" aus. Weil Dylan von seinem arbeitslosen Vater ständig verprügelt wird, flüchtet er mit der gleichaltrigen Nachbarin Kylie in die Großstadt. Auf Bummeln am Nachmittag, folgt ein Gespräch mit einem Straßenmusikanten und nachts geraten sie auch in gefährliche Situationen, sodass sie sich am nächsten Morgen von der Polizei nach Hause bringen lassen.

Harten britischen Sozialrealismus mit schonungslosem Blick auf die familiäre Situation und das soziale Umfeld verknüpft Daly mit poetischen Momenten wie dem Schlittern über den Eislaufplatz, in denen Freiheit und Glück spürbar werden. Ganz mag dieser Mix nicht aufgehen, aber großartig ist jedenfalls Dalys Gespür und seine Empathie für die jungen Protagonisten sowie seine Farbdramaturgie. Wie hier ganz langsam und sukzessive in den tristen schwarzweißen Alltag Farbe kommt, die am Ende wieder verschwindet, um bei einem Kuss Kylies dann doch nochmals kurz und ganz leicht aufzuflackern, korrespondiert ganz wunderbar mit der Entwicklung der Figuren und der Handlung.

Dass sich die triste familiäre Situation fortsetzen wird, leugnet "Kisses" nicht, aber das Bewusstsein der Freundschaft – oder ist es schon Liebe – gibt Hoffnung und so erzählt diese Reise in die Stadt, die auch eine Reise in die Nacht ist – da kann man auch an Scorseses "After Hours" als Vorbild denken, auch wenn völlig verschiedene Intentionen hinter beiden Filmen stecken -, auch vom Beginn eines neuen Lebensabschnitt.

Scharfe Gesellschaftskritik übt dagegen der Peruaner Josué Méndez in "Dioses". Böse ist sein Blick auf die High-Society der peruanischen Gesellschaft, die in ihren top ausgestatteten Luxusvillen ein Leben mit Parties und Abendgesellschaften führt wie in der griechischen Mythologie die Götter im Olymp, auf die sich der Titel bezieht. Die Teenager denken nur an Tanzen, Sex, Alkohol und Drogen, während die Mütter sich affektiert über die Bibel oder Zierpflanzen unterhalten.

Ein Fremdkörper ist in dieser Gesellschaft die deutlich jüngere Freundin eines Firmenchefs, die aus den Armenvierteln stammt. Um sich in dieser Welt dennoch perfekt zu bewegen, beginnt sie Bücher zu studieren und trainiert Small-Talk vor dem Spiegel. Ihre Herkunft verdrängt sie dagegen und verleugnet in einer Alptraumszene – Douglas Sirks "Imitation of Life" lässt grüßen – Mutter und Großmutter.

Durchaus gefällig ist dieses Gesellschaftsbild inszeniert, so stylisch im Musikeinsatz und Erzähltempo wie US-amerikanische Filme. Durch diesen Stil wird diese Abrechnung mit der Dekadenz und Arroganz der Oberschicht, die sich nicht einmal der sozialen Gegensätze im Land bewusst scheint, allerdings auch wieder leicht und relativ nachwirkungsfrei konsumierbar. Statt Rauheit, Ecken und Kanten, die Méndez furiosen Erstling "Dias de Santiago" so mitreißend machten, dominiert eine Glätte, die mit dem Schick der Oberschicht korrespondiert.