Lill Tschudi - Die Faszination des modernen Linolschnitts

Die Künstlerin Lill Tschudi (1911–2004) erlangte in den 1930er- und 1940er-Jahren grosse Bekanntheit im angelsächsischen Raum. Ihre Linolschnitte, die dem Modernist British Printmaking-Kreis zugerechnet werden, sind dort bis heute gefragt. In ihrer Schweizer Heimat ist sie dagegen weitgehend in Vergessenheit geraten.

Die Ausstellung in der Graphischen Sammlung und der begleitende Katalog präsentieren ihre ikonischen Werke sowie bislang unbekanntes Material aus dem Nachlass der Künstlerin und zahlreichen privaten Sammlungen. Die Auswahl wirft neues Licht auf das Leben und Schaffen dieser ausserordentlichen Meisterin des Farblinolschnitts.

Die Zwischenkriegszeit in Europa mit ihrem atemberaubenden Geschwindigkeitsrausch und ihrer überbordenden Lebensfreude ging als kurzes, aber umso vitaleres Intermezzo in die Kulturgeschichte ein. Die Glarner Kaufmannstochter Lill Tschudi war 1929 als junge Frau nach London aufgebrochen, um in der Metropole eine künstlerische Ausbildung zu geniessen. In der Grosvenor School of Modern Art traf sie auf Gleichgesinnte und machte sich mit ihren Linolschnitten bald einen Namen als äusserst talentierte Künstlerin – den sie sich im angelsächsischen Raum bis zum heutigen Tag bewahren konnte. Das Metropolitan Museum (MET) in New York besitzt ein stattliches Konvolut von 118 Blättern, und ihre Werke werden an Auktionen in England und Australien nach wie vor für stolze Summen angeboten. In der Schweiz geriet ihr Werk jedoch in Vergessenheit: Ausser in der Graphischen Sammlung ETH Zürich und im Kunsthaus Glarus sind Tschudis Arbeiten nur marginal in den öffentlichen Sammlungen vertreten, Einzelausstellungen gab es hier zu ihren Lebzeiten mit Ausnahme von Glarus lediglich in kleineren Galerien.

Durch zahlreiche Leihgaben aus dem In- und Ausland ergänzt, hat sich die Graphische Sammlung ETH Zürich zum Ziel gesetzt, ihren eigenen Bestand an Linolschnitten von Lill Tschudi aus den 1930er und 1940er Jahren zum ersten Mal komplett zu präsentieren. Die einzigartige dynamische und bunte Bildwelt Lill Tschudis wird darüber hinaus um einige Beispiele aus dem Modernist British Printmaking-Kreis in Grossbritannien ergänzt. Zeitgleich werden Blätter der Künstlerin aus der umfangreichen Sammlung von Leslie and Johanna Garfield im MET zu sehen sein (Modern Times: British Prints, 1913–1939, 1.11.2021–9.1.2022). Technik, Tempo und Telefon – die moderne Welt aus Konsum und Freizeit fand bis zu dieser Zeit noch selten den Weg in die Schweizer Graphik. Sport und Unterhaltung, pulsierendes Grossstadtleben neben beschaulichen Szenen aus der ländlich geprägten Schweiz, aber auch Szenen aus dem Frauenhilfsdienst während des Zweiten Weltkrieges – das thematische Spektrum ist bei Lill Tschudi eindrücklich, die technische Brillanz sucht ihresgleichen. Im Zuge der umfassenden Recherchen konnten zudem erstaunliche Funde gemacht werden. Einblicke in private Sammlungen und in den Nachlass der Künstlerin erlauben es, das Spektrum der bekannten Linolschnitte um unbekannte Motive, Vorzeichnungen, Ölbilder, Skizzenbücher sowie Druckplatten noch weiter aufzuspannen. Dazu sind auch Beispiele von angewandter Graphik wie Entwürfe für Plakate oder Stoffmuster zu zählen: Tschudi hat in Paris bei Fernand Léger "publicité" studiert und sich eine Zeit lang intensiv mit Werbung beschäftigt. Besonders hervorzuheben ist ausserdem ein neu entdecktes Album: In Form eines Leporellos hat hier die Künstlerin Motive aus der damals schillernden Magazinwelt gesammelt, eingeklebt und damit einen eigentlichen Bildfundus angelegt. Diese Trouvaille wird das Herzstück der Ausstellung bilden und kann als Schlüssel zum bewegten Leben und Schaffen dieser aussergewöhnlichen Frau bezeichnet werden. Auch wenn ihre Biografie in der damaligen Zeit eine Ausnahmeerscheinung war, so sieht man hier auch, dass es in der Schweiz damals begabte Künstlerinnen gab, die mit unbeugsamem Willen unbeirrt ihren schöpferischen Weg verfolgten.

Lill Tschudi. Die Faszination des modernen Linolschnitts
1. Dezember 2021 bis 13. März 2022
Geschlossen: 24. Dezember 2021 bis 2. Januar 2022 sowie 14. Januar 2022