Lawrence Abu Hamdan. The Right to Duplicity

Die Arbeiten von Lawrence Abu Hamdan (*1985 in Amman/JOR, lebt und arbeitet in London und Beirut), die sich an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft bewegen, erforschen die Praxis und zeitgenössische Politik des Hörens. Anhand von Tonaufnahmen, audio-visuellen Installationen und Dokumentationsmaterialien untersucht der Künstler die rechtliche Rolle der Stimme sowie den sich wandelnden Charakter der Zeugenschaft im Zusammenhang mit neuen Migrationspolitiken, Grenzüberwachungen, intelligenten Algorithmen und Abhörtechnologien. In der Kunst Halle Sankt Gallen präsentiert Lawrence Abu Hamdan einen Überblick seiner Forschung und künstlerischen Arbeit, sowie ein aktuelles Projekt in Zusammenarbeit mit WissenschaftlerInnen und ForensikerInnen.

Die jüngsten medialen Enthüllungen der Praktiken der NSA sowie nicht zuletzt die Skandalisierungen um die Person Edward Snowdens haben einmal mehr gezeigt, dass unser Sprechen nicht länger intim ist. Sie erinnern daran, dass die Redefreiheit zwar besteht, doch die Konventionen des Hörens sich zunehmend von einem Zuhören in ein Abhören verschoben haben. Der alles hörende Staatsapparat, der zur Basis Abu Hamdans Arbeit wird, befördert eine Politik der totalen Transparenz, in der das Geheimnis als die grösste Bedrohung der Demokratie verstanden wird. Indem die radikale Redefreiheit zum Garant einer gerechten Gesellschaft wird, scheint der Einzelne permanent dazu angehalten, sich öffentlich zu bekennen und Zeugnis abzulegen.

Ausgangspunkt der Überlegungen Abu Hamdans bildet die Beobachtung, dass Zeugenschaft heute nicht mehr an bestimmte Zeiten und Orte wie den Verhörraum oder den Zeugenstand gebunden ist; vielmehr kann alles Gesagte jederzeit und überall zur haftbaren Aussage werden. So thematisiert Abu Hamdan in seinen Arbeiten unter anderem die kontroversen Sprach- und Stimmanalysen der britischen Asylpolitik (The Freedom of Speech Itself, 2012) oder die bereits gängige Praxis der Sprachaufzeichnungen von Regierungen, Grenzbehörden und Versicherungsgesellschaften (The Whole Truth, 2012) und zeigt damit eine Politik des Hörens auf, die zunehmend nach alternativen Konzepten des Sprechens verlangt.

In seiner bisher grössten Einzelausstellung "Taqiyya – The Right to Duplicity" in der Kunst Halle Sankt Gallen untersucht Lawrence Abu Hamdan das linguistische Konzept Taqiyya. Der traditionelle Bestandteil islamischer Rechtsprechung wird heute noch von esoterischen Minderheiten des Islams sowie vor allem von der ca. eine Million Menschen umfassenden Glaubensgemeinde der Drusen in Palästina, Syrien und Israel praktiziert. Das Prinzip von Taqiyya, das etwa mit der westlichen Konzeption des Diplomatenstatus vergleichbar ist, erlaubt den Mitgliedern einer Gemeinschaft, ihren Glauben zu leugnen oder gar Straftaten zu begehen, während sie sich in einem besonderen Zustand der Verfolgung oder Staatenlosigkeit befinden. Die Aussagen unter Taqiyya stehen gleichzeitig in- und ausserhalb des Rechts.

Zwischen Wahrheit und Lüge installiert sich Taqiyya damit als die rechtliche Grundlage, genau jene Zwischenräume zu besiedeln. Angesichts neuer Grenz- und Migrationspolitiken und dem prekären Status der Staatsbürgerschaft, insbesondere entlang den Waffenstillstandslinien im Nahen Osten, gewinnt Taqiyya heute an neuer Relevanz.

Doppelzüngigkeit (duplicity) ist das Motiv, das uns Lawrence Abu Hamdan in seiner St. Galler Ausstellung zwischen Dokumentation und Inszenierung, zwischen traditionellen Sprechakten und neusten Technologien der Stimmanalyse auf vielfältige Weise vor Augen und Ohren führt. Im Sinne der Taqiyya eröffnet er ein neues Verständnis von Sprache sowie vom unzuverlässigen Charakter der Stimme und ihrem Verhältnis zur Wahrheit - und befragt damit die fundamentalen Bedingungen, unter denen wir sprechen, hören und gehört werden.


Taqiyya – The Right to Duplicity‪
11. Juli bis 13. September 2015