Kosmos Rudolf Steiner

Wohl kaum eine zweite Stadt in Deutschland ist so stark vom Gedankengut Rudolf Steiners geprägt wie Stuttgart: Hier hielt der ebenso einflussreiche wie umstrittene Begründer der Anthroposophie 1903 seinen ersten Vortrag, hier gründete er 1919 auf der Uhlandshöhe die erste Waldorfschule. Eine Vielzahl anthroposophischer Einrichtungen prägt seither die Identität der Stadt mit. Am 27. Februar 2011 jährt sich der 150. Geburtstag von Rudolf Steiner. Grund genug, dem "Kosmos Rudolf Steiner" gemeinsam mit dem Vitra Design Museum und dem Kunstmuseum Wolfsburg in einer umfangreichen Sonderschau nachzugehen.

Auf rund 2.000 Quadratmetern macht die bislang größte Sonderausstellung des Kunstmuseum Stuttgart erstmals die kulturgeschichtliche Bedeutung Steiners und dessen Einfluss auf die zeitgenössische Kunst umfassend sichtbar. Das Kunstmuseum möchte mit der Gesamtschau Forum für eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema sein, weswegen "Kosmos Rudolf Steiner" von einem vielfältigen Veranstaltungsprogramm begleitet wird. Um der Bedeutung Steiners für Stuttgart gerecht zu werden, legt das Kunstmuseum in Ergänzung der beiden Ausstellungskataloge die Publikation "Rudolf Steiner in Stuttgart" vor.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte Rudolf Steiner (1861-1925) den Ruf eines anerkannten Goetheforschers, dessen naturwissenschaftliche Schriften er kommentiert und ediert hatte. Danach folgte sein Engagement in der Theosophischen Gesellschaft, deren esoterische Weltanschauung aus England importiert war und Anleihen aus sämtlichen Weltreligionen nahm. Nach Unstimmigkeiten wandte sich Steiner davon ab und gründete 1913 eine eigene Weltanschauungsbewegung, in der er den Menschen mit Körper, Geist und Seele zum Zentrum seines Lehrgebäudes erklärte: die Anthroposophie.

In 300 Büchern und mehreren Tausend Vorträgen äußerte sich Steiner in den folgenden Jahren zu allen wichtigen Lebensbereichen. Die Reformierung von Pädagogik, Ernährung, Landwirtschaft, Medizin, Technik, Theologie aber auch der politischen Gesellschaftsordnung war ihm ein dringendes Anliegen. Kunst und Architektur widmete er sich seit 1910 intensiver; sie stellten für ihn die entscheidenden Bereiche dar, um seine neue Sichtweise für jeden erfahrbar zu machen. Steiner suchte den Kontakt mit Künstlern, und viele waren in jener Zeit von seinem Gesamtkunstwerkgedanken fasziniert oder suchten wie Wassily Kandinsky ebenfalls das "Geistige in der Kunst". Für die moderne Architektur sollte der zweite Bau des Goetheanums (1928), der erste Monumentalbau aus Beton, eine einflussreiche Vorbildfunktion bekommen. Aus den vielen markanten Ausstattungsstücken ziehen bis heute auch nichtanthroposophische Designer Anregungen.

Anhand historischer Dokumente, Möbel, Filme und Architekturmodelle macht der vom Vitra Design Museum konzipierte Ausstellungsteil deutlich, wie umfassend der Steinersche Ansatz gewirkt hat, und dass sich sein ganzheitliches Denken gerade heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen wiederfindet. Ein Großteil der Leihgaben stammt aus dem Rudolf Steiner Archiv in Dornach sowie der Kunstsammlung Goetheanum, die die Vorbereitung der Ausstellung durch Recherchen maßgeblich unterstützt haben. Die bekannten Wandtafeln von Rudolf Steiner, mit denen er seine Vorträge illustrierte, werden ebenfalls in einer repräsentativen Auswahl gezeigt.

Über diese Wandtafeln, die erst lange nach seinem Tod wiederentdeckt wurden, verlief die Steiner-Rezeption einer jungen Künstlergeneration. Am Anfang stand Joseph Beuys, dessen Steiner-Lektüre in seinem Werk deutliche Spuren hinterlassen hat. In der Ausstellung "Kosmos Rudolf Steiner" werden neben Beuys 13 weitere Künstler gezeigt, die bislang kaum in diesem Kontext angesiedelt und interpretiert wurden. Doch durch die Begegnung von historischen Dokumenten mit zeitgenössischen Exponaten werden Bezüge überraschend offensichtlich. Der isländische Künstler Olafur Eliasson beschäftigt sich beispielweise mit vielen Fragestellungen, die auch Steiner fesselten. Die Herangehensweise an naturwissenschaftliche Phänomene durch ästhetische Anschauung verbindet Steiner ebenso mit Eliasson.

Andere Künstler wie Claudia Wieser oder Bernd Ribbeck setzen sich mit der Vorstellung des Geistigen und dessen Verhältnis zur Materie auseinander. Bei Tony Cragg wird Steiners Idee der Metamorphose unter anderem Vorzeichen anschaulich. Sowohl auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene sind die Verbindungen zum Kosmos Rudolf Steiner vielfältig. Dennoch verstehen sich alle eingeladenen Künstler, darunter Katharina Grosse, Carsten Nicolai, Anish Kapoor, Guiseppe Penone, Jan Albers und Manuel Graf, nicht als anthroposophische Künstler. Ihr Werk erschließt sich auch ohne den Bezug zu Steiner. Für die Ausstellung stellt sich deshalb vielmehr die übergeordnete Frage, welche Funktionen Steiner und die besagten Künstler in ihrer Zeit einnehmen. In Interviews, die sich in dem gemeinsamen Katalog von den Kunstmuseen in Wolfsburg und Stuttgart wiederfinden, äußern sich die Künstler zu ihrem jeweiligen Zugang zu Steiner. Dabei wird deutlich, dass Steiner als Philosoph und weniger als Künstler und Gestalter anregend wirkte.

Das wiedererwachte Interesse an Steiner außerhalb der anthroposophischen Gemeinde erklärt sich durch dessen gespaltene Haltung zur Moderne: Er war zwar allen neuen Techniken und Forschungen zugewandt und doch baute er seine Lehre auf einem mythischen Menschheitswissen auf. Sämtliche ausgewählten Künstler der Ausstellung vollziehen auf ihre Weise diese Dialektik der Moderne nach und reagieren mit ihren Werken auf eine globalisierte, hoch technisierte und spezialisierte Welt: Diese Reaktion weist erstaunliche Parallelen zur Reformbewegung des vergangenen Jahrhunderts auf.

Kosmos Rudolf Steiner
5. Februar bis 22. Mai 2011