Dritte Walpurgisnacht - Karl Kraus’ Anti-Nazi-Essay als kommentierte Online-Edition verfügbar

Zum 150. Geburtstag von Karl Kraus ist nun sein literarischer Essay zur Machtübernahme der Nationalsozialisten, die „Dritte Walpurgisnacht“, in einer erweiterten Edition online verfügbar. Mit umfangreichen Kommentaren, Glossareinträgen und einer interaktiven Zeitleiste erläutern Forscher:innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die historischen Kontexte zu Kraus’ literarischem Werk.

„Mir fällt zu Hitler nichts ein.“ Mit diesem prägnanten Satz beginnt die „Dritte Walpurgisnacht“, das posthum veröffentlichte Spätwerk des österreichischen Schriftstellers und Satirikers Karl Kraus (1874–1936). Von Februar bis September 1933 beobachtete Kraus von Wien aus die ersten Monate der faschistischen Herrschaft in Deutschland und hielt die menschenverachtenden Auswüchse seiner Zeit fest.

Über 300 Seiten füllte der Sprach- und Kulturkritiker mit seiner bestechenden Analyse. Eine Montage von Zitaten aus Medienberichten und NS-Propaganda kontrastierte und kommentierte er mit Stellen aus literarischen Klassikern. Kraus verdichtete in seinem Essay die Gewalt auf deutschen Straßen, die Gräuel in den frühen, sogenannten wilden Konzentrationslagern und den NS-Terror in Österreich – und widerlegte schon früh das verbreitete Vorurteil, man habe damals nichts von der mörderischen Dimension des Nationalsozialismus wissen können.

Ein Editionsprojekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat nun die vielfältigen historischen und kulturgeschichtlichen Anspielungen und Bezüge eingehend untersucht. Das Ergebnis ist – rechtzeitig zum 150. Geburtstag von Karl Kraus – eine erweiterte digitale Edition. Sie bettet den Originaltext mit rund 220 Kommentaren, ergänzt durch 170 Anmerkungen und Glossareinträge, in seinen historischen Kontext ein.

So erläutert der Kommentar historisches wie tagaktuelles Geschehen, Biographisches zur NS-Führung, Hinweise auf vergessene Dichter und vieles mehr. Die politischen Verwerfungen der deutschen und österreichischen Zwischenkriegszeit liegen dabei ebenso innerhalb des weiten Anspielungshorizonts des Textes wie etwa die deutsche Kolonialvergangenheit in Kamerun, der Genozid in der Ukraine Anfang der 30er Jahre oder die Schlacht bei Tannenberg 1914 im Ersten Weltkrieg – den Kraus in vielen Aspekten des Jahres 1933 wieder aufleben sieht.

Die „Dritte Walpurgisnacht“ kann auch als Zeitzeugnis gelten und verzeichnet dabei Ereignisse jeder Größenordnung: Reichstagsbrand und den Boykott jüdischer Geschäfte, aber etwa auch einzelne NS-Übergriffe auf den Straßen Deutschlands und Österreichs. Die Online-Edition macht diese Ereignisse auf einer interaktiven Zeitleiste mit weit über 200 Einträgen sichtbar.

Mit "SemanticKraus" widmet sich darüber hinaus eine neue Plattform des ACDH-CH der Vernetzung der vielfältigen Daten mehrerer Karl-Kraus-Forschungsprojekte. Die in der „Dritten Walpurgisnacht“ identifizierten Personen beispielsweise lassen sich nun über diese Plattform auch in die Zeitschrift „Die Fackel“ verfolgen, die Kraus von 1899 bis 1936 herausgab, oder auch in die umfangreichen Rechtsakten des streitbaren Autors. Durch die Transformation dieser Registerdaten in den Web-Standard RDF schließt "SemanticKraus" die Kraus-Forschung an das Semantic Web an und ermöglicht den User:innen die Erkundung der über 17.000 verzeichneten Texte mit ihren gegenseitigen Bezügen und den Nennungen von über 14.000 biographisch erfassten Personen.