Jugendschatz und Wunderscherlein

Die MAK-Ausstellung "Jugendschatz und Wunderscherlein. Buchkunst für Kinder in Wien 1890–1938" dokumentiert mit fast 100 Exponaten das Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation in diesem Genre und spiegelt die gesellschaftlichen Veränderungen und die ästhetischen Entwicklungen jener Zeit wider. Erziehung durch Kunst wurde als Lebensbildung verstanden und sowohl staatliche als auch private Kunstschulen befassten sich mit der Lektüre für Kinder. Das Wiener Kinderbuch entstand teils als kostengünstiges Massenprodukt, teils als aufwändig handkoloriertes Künstlerbuch.

Eines der ersten eindrucksvollen Exemplare der Buchkunst in Österreich war das von Heinrich Lefler herausgegebene Werk "Die Prinzessin und der Schweinehirt" von Hans Christian Andersen (1897). Das MAK zeigt die 15 Blätter umfassenden Originalentwürfe, die sich in der MAK-Kunstblättersammlung befinden. Die Publikation "Jugendschatz. Deutsche Dichtungen" (1897) belegt Koloman Mosers großes Talent als Buchkünstler. Seine ebenfalls im Original ausgestellten Illustrationen sind geprägt durch die Reduktion des Räumlichen, faszinierende Licht- und Schattenwirkungen, dekorative Symbolsetzungen und detailfreudige Szenerien. Einen weiteren Höhepunkt dieser Ausstellung stellen die "Bilderbogen" der Wiener Werkstätte (1907) dar, die mit der Produktion von insgesamt 19 Bilderbogen die alte Tradition der populären Druckgrafik wieder aufnahm.

Die nachhaltige Förderung kreativer Arbeiten für Kinder und von Kindern aller Bevölkerungsschichten setzte sich in der Zwischenkriegszeit durch. Repräsentative Beispiele sind während der 1920er und 1930er Jahre in der Jugendkunstklasse von Franz Cizek und in der Werkstätte von Emmy Zweybrück entstanden, so z.B. "Der Spielzeugschrank" (1934). "Das Märlein vom Wunderscherlein" (1926) war ein Beschäftigungsbuch für große und kleine Kinder, Illustration und Text stammen von Richard Rothe.

Repräsentativ für "Von der Monarchie zur Republik", einer noch traditionsverbundenen Kinderbuchproduktion, ist z.B. das Buch "Wien seit 60 Jahren" (1908), das in einer Auflage von ca. 100.000 Stück kostenlos in Wiener Schulen verteilt wurde. Es wurde dennoch mit einem prächtigen Einband ausgestattet und auf hochwertigem Papier gedruckt. Das "Patriotische Kinderbuch" (1914) mit Illustrationen von Maximilian Liebenwein war der Geschichte Österreichs zu Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewidmet. Trotz der Kriegswirren legte der "Selbstverlag des Kriegshilfsbüros des k.k. Ministerium des Innern" größten Wert auf buchkünstlerische Qualität.

Das Kapitel "Bürgerliches Leben" befasst sich mit den bereits vor 1900 angelaufenen Bemühungen, Kinderbücher auch den nicht wohlhabenden Bevölkerungsschichten kostengünstig zugänglich zu machen. Im Zuge dessen entstanden die Kunsterziehungs- und die Jugendschriftenbewegung, die vom Großbürgertum unterstützt wurden. Die im MAK ausgestellte illustrierte Monatsschrift "Für die Jugend des Volkes" wurde speziell für ärmere Kinder produziert. Ab 1895 kreierten auch bedeutende Künstler wie Koloman Moser, Leo Kainradl und andere Bilder für die Hefte. Ein weiteres Werk, das zu den frühesten Wiener Kinderbüchern zählt und den
Anspruch von "Moderne" erfüllen wollte, ist "Alexander Pock’s Bilderbuch für die Jugend im Alter von 5–8" (1899). Auffallend sind die unterschiedlichen Reproduktionstechniken, die für die Experimentierfreudigkeit um die Jahrhundertwende signifikant waren.

Die "Moderne Welt" im Kinderbuch beschreibt eine Gesellschaft, die konkrete Vorstellungen von Gegenwart und Zukunft hatte. Die Zeichen der "Moderne" waren unmissverständlich: Sie beinhalteten nicht nur neue technische Entwicklungen und Baustile, sondern auch soziale Veränderungen, vor allem nach 1919, als sozialdemokratische Kräfte Bücher für Kinder wesentlich beeinflussten. Die Auseinandersetzung mit dem "richtigen Weltbild" wurde zu einem zentralen Thema. Interessant dazu ist der "Bilderbogen für Schule und Haus" (1899), der das "neue" dem "alten" Wien gegenüberstellt und dokumentiert, wie grafische und reprografische Mittel der inhaltlichen Symbolik dienten.

Der Abschnitt "Neue Pädagogik" setzt sich mit reformpädagogischen Strömungen auseinander, die besonders nach dem Ersten Weltkrieg in einem krassen Widerspruch zu den weiter vorherrschenden konservativen Anschauungen von Autorität und dem vorgegebenen bürgerlichen Wertesystem standen. Die sozialdemokratische Schulreform in Wien wollte Kindern die kulturelle
Bedeutung des "schönen und guten" Buchs vermitteln. Dazu dienten kostengünstig hergestellte, jedoch künstlerisch gestaltete Publikationen, die den Schülern meist gratis zur Verfügung gestellt wurden. In den frühen 1920er Jahren gab es besonders viele Jugendschriften von hoher Qualität. Hervorzuheben ist "Gerlachs Jugendbücherei" (1901–1920), die früheste und berühmteste in dieser Reihe. Die durchwegs mit farbigen Illustrationen gedruckten Bände wurden weit über die Grenzen Österreichs bekannt.

Vor allem einzelne Verlage, in der Ausstellung repräsentiert durch Martin Gerlach & Co, Brüder Rosenbaum, Verlag der Wiener Werkstätte, Konegens Jugendschriftenverlag, Rudolf von Waldheim, Artur Wolf Verlag u.a. bestimmten die Eigenart der Kinderbuch-Produktion ebenso wie die Wiener Kunstschulen – allen voran die Kunstgewerbeschule. Ein weiteres Phänomen dieser Zeit waren private Bilderbücher, die von Künstlern ohne verlegerischen Auftrag, also auch ohne Rücksicht auf finanzielle Überlegungen und ohne Verbreitung durch einen Verlag zumeist in geringer Auflage hergestellt wurden. Sie wurden in weiterer Folge entweder von den Künstlern verschenkt oder über Galerien und den Kunsthandel verkauft. In ihnen spiegelt sich die ganze Vielfalt buchkünstlerischer Möglichkeiten, sehr oft in Originaltechniken wie Lithographie, Holzschnitt, Schablonenmalerei, wider.


Publikation: "Jugendschatz und Wunderscherlein. Buchkunst für Kinder in Wien 1890–1938", herausgegeben von Peter Noever, mit Beiträgen von Friedrich C. Heller, Peter Noever, Kathrin Pokorny-Nagel, MAK Studies 17, 128 Seiten, EUR 24,–

Jugendschatz und Wunderscherlein
Buchkunst für Kinder in Wien 1890–1938
7. Oktober 2009 bis 7. Februar 2010