Die Ausstellung im Museum Tinguely hat ihren Ausgangspunkt im ersten Happening in Europa, das Lebel am 14. Juli 1960 veranstaltete und bei dem eine Skulptur von Jean Tinguely eine Hauptrolle spielte: "L’enterrement de la Chose de Tinguely". Präsentiert werden Dokumente zum Happening, einige Philosophen von Lebel und Tinguely sowie Lebels spätes Werk "Les Avatars de Venus".
Das Happening "L’Enterrement de la Chose de Tinguely" fand statt im Anschluss an die zweite Ausstellung von "Anti-Proces", einer Serie von drei Manifestationen, die sich gegen den grausam geführten Krieg Frankreichs gegen die Unabhängigkeitsbewegungen in Algerien wandten. Sie schlagen einen grossen Bogen von Anti-Kolonialismus über eine Haltung gegen eine nationalistische oder patriarchalische Kunst bis hin zu einer Ablehnung chauvinistischer Grossveranstaltungen wie der Biennale von Venedig. Anlass zum Enterrement gab der gewaltsame Tod einer jungen Frau, Nina Thoeren, in Los Angeles, mit der die Organisatoren von "Anti-Proces", Jean-Jacques Lebel und Alain Jouffroy, befreundet gewesen waren. Sie hatte zuvor in Venedig gelebt, ihre Vergewaltigung und Ermordung war für viele Beteiligte ein tiefer Schock. Das Happening war eine Gedenkveranstaltung, nach einer Zeremonie mit klagenden Frauen, mit einer Lesung von Texten und einer rituellen Ermordung der Skulptur wurde Tinguelys "Chose" auf eine Gondel verladen, zwei weitere mit Zuschauern und Zuschauerinnen folgten, und am Schluss wurde die Skulptur im Canale della Giudecca versenkt. Von diesem Happening existieren einige wenige Fotos, eine Einladungskarte, sowie Berichte verschiedener Teilnehmer:innen.
Mit diesem ersten Happening in Europa schuf Lebel das Fundament für seine zukünftige künstlerische Entwicklung, die zwischen politisch engagierter Malerei und Happenings oszilliert und deren erklärtes Ziel die Sprengung sämtlicher gesellschaftlicher Grenzen ist und die ganz im Zeichen der 'Insurrection‘, des Aufstands, der Revolte und des Ungehorsams steht. Mit den "Festivals de la Libre Expression" stellt Lebel in den 1960er Jahren den Bruch mit allen Normen als den Beginn einer neuen Gesellschaft in den Mittelpunkt. Seine Kunst und ebenso sein Denken sind geprägt von einer lebenslangen Auseinandersetzung mit Texten von Bakunin, Nietzsche, Stirner, und einer Haltung, die ein äusserst kritischer Blick auf die staatliche Politik auszeichnet.
Zu seinen späten Werken zählt "Les Avatars de Venus" (2007), eine Vierkanal-Videoinstallation, in der Lebel anhand des Bildes der Frau die Frage nach dem kollektiven Gedächtnis bezüglich Archetypen stellt, das die Geschichte der Künste und der Kulturen als kontinuierlichen Wandel determiniert. Und nicht zuletzt wird des Künstlers Blick auf die Darstellung der Frau in 7000 Abbildungen aus verschiedensten Kulturen und Kontexten das Thema dieser Installation. Sie ist in der Ausstellung zu sehen, neben Dokumenten zum Happening von 1960 und Lebels Porträts "seiner" Philosophen, Bakunin, Dostojewski, Duchamp, Nietzsche, Spinoza, denen zwei Philosophen von Tinguely gegenübergestellt werden, Kropotkin und Bergson.
Jean-Jacques Lebel. "La Chose" de Tinguely, quelques philosophes et "Les Avatars de Venus"
13. April bis 18. September 2022