Jean-Jacques de Boissieu. Ein Zeitgenosse Städels

Das Jubiläumsjahr des Städel Museums beginnt mit einer Ausstellung herausragender Zeichnungen und Radierungen des französischen Künstlers Jean-Jacques de Boissieu (1736–1810), die vom 11. Februar bis 10. Mai 2015 in der Ausstellungshalle der Graphischen Sammlung gezeigt werden. Schon zu Lebzeiten war Boissieu über die Grenzen Frankreichs hinaus ein hochgeschätzter Künstler.

Seine virtuos in Zeichnung und Druckgrafik ausgeführten Landschaften, Genreszenen und Porträts begeisterten nicht nur Fürsten, sondern vor allem auch private Sammler wie Johann Friedrich Städel (1728–1816). Der Gründer des Städelschen Kunstinstituts erwarb mehr als 20 Zeichnungen und weit über 200 Radierungen des Künstlers, die somit nicht nur zum alten Bestand des Städel Museums zählen, sondern insgesamt auch eine der größten Sammlungen von Werken Boissieus in Deutschland darstellen.

Für die Sonderausstellung der Graphischen Sammlung sind hiervon nun 13 Zeichnungen sowie 83 Radierungen ausgewählt worden, die einen bemerkenswerten Einblick in das künstlerische Schaffen Boissieus geben. Während sein Œuvre in einer Zeit historisch umwälzender Ereignisse rund um die Französische Revolution entstand, zeigen die Werke selbst in einer fast irritierend unaufgeregten und seriösen Stetigkeit Landschaft und Leben in der Provinz um seine Heimatstadt Lyon. Fortschrittlich vertritt Boissieu in seinen radierten Landschaften und Bildnissen sowie fein nuancierten Pinsel- und Kreidezeichnungen eine vom Naturstudium genährte Wirklichkeitsnähe, die auf eine von akademischen Normen unabhängige, bürgerliche Kunstauffassung verweist.

Der 1736 in Lyon geborene Jean-Jacques de Boissieu konzentrierte sich in seiner künstlerischen Arbeit auf Zeichnungen und Radierungen. So entstanden insgesamt etwa 1.000 Zeichnungen sowie 151 Radierungen; Gemälde hingegen sind von ihm nur wenige überliefert. Boissieu, der aus einer Familie des niederen südfranzösischen Adels stammte und dessen Vater, ein Arzt, bereits in seiner frühen Kindheit verstarb, besuchte in seiner Heimatstadt Lyon eine kostenlose Zeichenschule, deren Ausbildung der ansässigen Seidenindustrie diente. Zum Radieren animierte ihn ein Kunsthändler der Stadt. Da Boissieu keine Kunstakademie besucht hatte, wurde er zu seiner Zeit als Amateur bezeichnet. Die politisch und gesellschaftlich turbulenten Zeiten rund um die Französische Revolution haben im Werk Boissieus keine Spuren hinterlassen. Sein Œuvre umfasst eher bürgerlich-private Sujets und Motivthemen wie Landschaften, Bildnisse und Porträts von Familienmitgliedern sowie alltägliche und verallgemeinernde Genredarstellungen.

Die Präsentation in der Ausstellungshalle der Graphischen Sammlung eröffnet mit einem Selbstporträt des damals 60-jährigen Künstlers, einer 1796 entstandenen Radierung in zwei Fassungen: Die erste zeigt Boisseu mit dem Bildnis der Ehefrau in Händen, in der späteren ist dieses einer ländlichen Idylle gewichen. Das Selbstverständnis des Künstlers, der sein Leben nicht in der Hauptstadt Paris, sondern in der damals nach ihr zweitgrößten Stadt Frankreichs, in Lyon, verbrachte, wurzelt in der Familie und der Region seiner Heimat. In der Ausstellung werden diese beiden Stränge zum einen durch Bildnisse wie das gezeichnete Porträt des jüngeren Bruders (um 1781), aber auch durch ein Motiv wie "Seifenblasen" (1799) unterstrichen, das an seine Söhne erinnern mag. Zum anderen sind es topografische Ansichten der Stadt Lyon und ihrer landschaftlichen Umgebung, darunter die Radierung Ansicht der Rhône-Brücke in Lyon (1761), die beispielhaft neben einem ein Jahr zuvor ausgeführten Aquarell ausgestellt wird. Die malerische Zeichnung des Bauwerks, die Licht- und Schattenverteilung und die damit erzeugte atmosphärische Wirkung zeugen von eigenständiger Qualität.

Neben der Landschaft stehen Bildnis und Genre im Zentrum der Kunst von Boissieus Werk. Ein Blatt etwa versammelt individuell-prägnante Gesichter und Bildnisse bekannter und unbekannter Personen ‒ physiognomische Studien, die ihre Entsprechung in den zeitgleich entstehenden Veröffentlichungen des Schweizer Philosophen und Autors Johann Caspar Lavater (1741–1801) finden. Die Genreszenen berühren den zeitgenössischen Alltag der Region und handeln vom Zuhören (Der Oboist, 1782) und Zuschauen (Bildnis des Hundertjährigen aus Lyon, 1780), vom Lehren und Lernen (Die Schulklasse, 1780), vom Geben und Nehmen (Der Almosen gebende Alte, 1780), von Arbeit und Handwerk (Die großen Küfer, 1790), vom Ausruhen und Spielen, von Jugend und Alter. Neben diesen vorrangig bürgerlich-privaten Bildthemen finden sich in der Präsentation nur vereinzelt Radierungen, die ein herausragendes, aktuelles Ereignis wie den Aufenthalt von Papst Pius VII. in Lyon im Jahr 1804 festhalten.

In der Ausstellung sind mit Grafiken wie der Radierung "Die großen Gaukler" (1772) nach einem Gemälde Karel Dujardins (um 1622–1678) schließlich auch Adaptionen von Werken niederländischer Künstler des 17. Jahrhunderts zu sehen, die jedoch keine Reproduktionsgrafiken im üblichen Verständnis, sondern weitestgehend freie Umsetzungen sind. Bereits am Beispiel seiner schon 1758 unter dem Titel "Griffonnements" (Kritzeleien) verlegten kleinen Radierungen von Köpfen und szenisch zusammengestellten Figuren, die in der Ausstellung zu sehen sind, wird die Orientierung Boissieus an der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts deutlich, die ganz dem wachsenden Interesse seiner Zeit an dieser Epoche entspricht.

Jean-Jacques de Boissieu zählt zu den letzten großen Druckgrafikern des 18. Jahrhunderts. Obwohl er den Großteil seines Lebens in Lyon verbrachte, vernetzte er sich bestens mit verschiedenen Verlegern unter anderem in Paris, aber auch in Nürnberg und Mannheim und genoss zeitlebens hohes Ansehen. Hierauf lassen unter anderem seine Mitgliedschaften beim Institut de France in Paris und bei den Akademien von Lyon, Florenz und Bologna schließen. Nach einem längeren Aufenthalt in Paris zwischen 1762 und 1764, wo er einflussreiche Künstler wie Jean-Baptiste Greuze (1725–1805) oder Sammler wie Pierre-Jean Mariette (1694–1774) kennenlernte, reiste Boissieu in den Jahren 1765 und 1766 im Gefolge des Herzogs de La Rochefoucauld (1743–1792) nach Genua, Neapel und Rom.

Während dieser Zeit begegnete er vielen richtungsweisenden Persönlichkeiten seiner Zeit wie dem Philosophen und Autor Voltaire (1694–1778) oder dem Archäologen und Kunstschriftsteller Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Während seiner Reise hielt er die Eindrücke mit dem Pinsel fest, wobei die sich im Licht entfaltende Landschaft im Zentrum stand. Fortan griff er in seinen Arbeiten immer wieder auf diese italienischen Naturstudien zurück, die ihm als direkte Vorlagen oder als Erinnerungsstützen für Radierungen von frei komponierten Landschaften dienten. Auch Stiftungsgründer Johann Friedrich Städel konnte eine dieser begehrten italienischen Pinselzeichnungen Boissieus (Ruine des Apollotempels am Ufer des Averner Sees, 1765) erwerben, die ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist.

Im Anschluss an seine Italienreise kehrte Boissieu ins heimatliche Lyon zurück und wurde 1771 königlicher Beamter, was ihm bis zum Ausbruch der Französischen Revolution ein regelmäßiges Einkommen sicherte. Boissieus adelige Abstammung, die ihm zunächst viele Türen geöffnet hatte, wurde nun zu einer lebensgefährlichen Bedrohung. Eine offizielle Bescheinigung aus Paris stellte ihn und seine Werke jedoch schließlich unter Schutz.

1801 publizierte der 65-jährige Boissieu ein Werkverzeichnis seiner Radierungen, von dem Johann Friedrich Städel ein handschriftlich vom Künstler ergänztes Exemplar erwarb, das auch in der Ausstellung zu sehen sein wird. Nach wenigen Jahren der frühen Zusammenarbeit mit verschiedenen Pariser Verlegern hatte Boissieu den Vertrieb seiner Druckgrafik bereits 1764 selbst in die Hand genommen. Erst im Alter, ab 1807, ließ er seine Werke wieder durch Verleger, nun durch Frauenholz in Nürnberg oder Artaria in Mannheim, vertreten. Es ist anzunehmen, dass Städel durch diese deutschen Händler beliefert wurde.

Ob der Sammler jemals in persönlichem Kontakt zu dem von ihm geschätzten Künstler stand, ist nicht bekannt. Es spricht jedoch für den Geschmack und den Weitblick des Frankfurter Bürgers, einen französischen Zeitgenossen, der seinen eigenen künstlerischen Weg ging, in das Ensemble seiner Sammlung aufgenommen zu haben. Städel und Boissieu sind durch eine weitere Gemeinsamkeit verbunden: Auch Boissieu besaß eine eigene Kunstsammlung. Als Künstler, Sammler und Kunstkenner wurde Boissieu 1803 gar in die Kommission zur Einrichtung des Museums in Lyon berufen. So verbindet die beiden Zeitgenossen auch die Maßgeblichkeit ihrer Rolle bei einer Museumsgründung.


Jean-Jacques de Boissieu
Ein Zeitgenosse Städels
11. Februar bis 10. Mai 2015