"It´s a strange world" – Zum 70. Geburtstag von David Lynch

25. Januar 2016 Walter Gasperi
Bildteil

Irritation lösen die Filme des 1946 in Missoula, Montana geborenen David Lynch immer wieder aus. Mehr durch die Auflösung traditioneller Erzählformen als durch die Inhalte verunsichert er in seinen Filmen, in denen er mit Vorliebe die Abgründe der menschlichen Seele auslotet. Am 20. Januar feierte der Amerikaner, der seit "Inland Empire" (2006) "nur" Kurzfilme gedreht und sich der Werbung für die Transzendentale Meditation gewidmet hat, nun aber an einer Fortsetzung seiner Erfolgsserie "Twin Peaks" arbeitet, seinen 70. Geburtstag.

Düstere Action-Paintings sollen die Bilder gewesen sein, die David Lynch Mitte der 1960er Jahre während seines Studiums an der Pennsylvania Academy of Fine Arts gemalt hat. Daneben soll aber auch eine Serie von Zeichnungen, die Lynch selbst "Industrial Symphonies" nannte, entstanden sein.

Ein direkter Weg scheint von diesen Anfängen im Bereich der Bildenden Kunst über die teils verlorenen Kurzfilme "Six Figures Getting Sick" (1967), "The Alphabet" (1968) und "The Grandmother" (1970) zu seinem ersten Spielfilm "Eraserhead" (1977) zu führen. Denn so simpel im Grunde die Geschichte eines jungen Mannes ist, der unfreiwillig Vater eines seltsam aussehenden Babys wird, so beunruhigend sind die suggestiven surrealen Bilder, deren Wirkung durch die Tonspur noch verstärkt wird.

Schon in diesem unter widrigen Produktionsbedingungen, dafür aber in völliger künstlerischer Freiheit realisierten "Midnight Movie" verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum. Während sich durch den äußeren Rahmen der Eindruck eines Sozialdramas ergibt, das in einer verfallenden Industrielandschaft spielt, entführt "Eraserhead" im Kern in die beklemmende Vorstellungswelt der Hauptfigur. Und viele Bilder und Motive aus diesem Debüt finden sich auch in Lynchs späteren Filmen wieder.

Sein internationaler Durchbruch gelang ihm mit seinem zweiten Film "The Elephant Man" (1980), der für acht Oscars nominiert wurde, aber bei der Verleihung dennoch leer ausging. Aus der – wahren – Geschichte des im ausgehenden 19. Jahrhundert lebenden, missgestalteten Joseph "John" Merrick macht Lynch ein – nicht zuletzt dank der großartigen Schwarzweißfotografie von Freddie Francis – atmosphärisch dichtes Meisterwerk über die Condicio Humana.

Auf den Höhenflug folgte der tiefe Sturz mit der Verfilmung von Frank Herberts Science-Fiction Roman "Dune – Der Wüstenplanet" (1984), der bei Publikum und Kritik durchfiel. Trotz dieses Desasters produzierte Dino de Laurentiis auch Lynchs folgenden Film, mit dem er seinen Status als Kultregisseure begründete.

"Blue Velvet" (1986) beginnt mit einer Bilderbuchidylle: Zu Bobby Vintons Song "Blue Velvet" schwenkt die Kamera vom strahlendblauen Himmel hinunter zu einem weißen Gartenzaun, vor dem eine knallrote Rose blüht. Ein Feuerwehrauto mit freundlich winkendem Feuerwehrmann fährt in slow-motion durch die ruhige Wohngegend und eine Lehrerin geleitet Kinder über die Straße, während ein Mann seinen gepflegten Rasen sprengt.

Unvermittelt kippt die Idylle aber ins Bedrohliche, wenn der Mann sich an den Hals greift und zusammenbricht und die Kamera in die Wiese abtaucht und ein Gewimmel von Käfern sichtbar macht.

"Welcome to Lumberton" wird in der nächsten Einstellung ein Plakat verkünden, doch ist man inzwischen gewarnt und glaubt der idyllischen Oberfläche der Kleinstadt im amerikanischen Mittelwesten nicht mehr.

Wirklich abgründig wird es aber erst, als Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan) auf einer Wiese ein abgetrenntes menschliches Ohr entdeckt und ihn seine Nachforschungen in die Lincoln Street zur Nachtclubsängerin Dorothy (Isabella Rossellini) führen, die vom psychopathischen Frank Booth (Dennis Hopper) tyrannisiert wird.

Das könnte ein beliebiger Thriller sein, doch nichts ist hier zufällig gewählt. Wie die Farben Blau-Weiß-Rot des Beginns auf das Star-Spangled-Banner verweisen, so stehen die Namen in Bezug zur ambivalenten amerikanischen Geschichte, wenn dem "Muster"-Präsidenten Lincoln sein Mörder Booth gleich zur Seite gestellt wird.

Diese Ambivalenzen ziehen sich freilich durch den ganzen Film, manifestieren sich vor allem im "guten Jungen" Jeffrey, der die blonde Sandy (Laura Dern) zwar zur Freundin will, aber der schwarzhaarigen Dorothy, die auf sadomasochistische Praktiken steht, verfällt. Im brutalen Booth begegnet Jeffrey so letztlich niemand anderem als seiner dunklen Seite.

Zufall ist hier aber auch nicht der Name Dorothy oder der gelbe Mittelstreifen eines Highways, der bei einer nächtlichen Entführung Jeffreys ins Bild gerückt wird. Beides kommt nämlich auch in anderen Lynch-Filmen – der Name Dorothy in "The Straight Story", der gelbe Mittelstreifen in "Lost Highway" und "The Straight Story" – vor und verweist unübersehbar auf David Lynchs Lieblingsfilm "The Wizard of Oz".

Wie in diesem klassischen Musical aus dem Jahre 1938 Judy Garland als Dorothy aus der Realität in eine Märchen- und Traumwelt abtaucht, so entführen auch die Filme Lynchs immer wieder in Traumwelten. Und wie Dorothy dem "Yellow Brick Road" folgt, so folgen die Figuren Lynchs dem gelben Mittelstreifen.

Explizit auf "The Wizard of Oz" Bezug genommen wird in "Wild at Heart" (1990). Wie dort Dorothy in ihrer Traumwelt von einer bösen Hexe bedroht wird, so versucht in Lynchs Roadmovie eine böse Übermutter die Beziehung zwischen ihrer Tochter Lula (Laura Dern) und Sailor (Nicolas Cage), den sie selbst begehrt, zu verhindern.

Von Sailor abgewiesen setzt die Mutter zunächst einen Schläger auf ihn an und lässt später das – auf dem "Yellow Brick Road" flüchtende - Paar von South Carolina über New Orleans bis in ein texanisches Wüstenkaff von Killern verfolgen. Ganz konkret als böse Hexe, die auf einem Besenstil reitet, erscheint hier die für ihre Darstellung der dämonischen Mutter für den Oscar nominierte Diane Ladd, kann aber doch nicht den Sieg erringen, da Sailor eine gute Fee den richtigen Weg weist.

Mit Realismus will dieser Film, der parallel zur Fernsehserie "Twin Peaks" entstand, vom ersten Bild an nichts zu tun haben, arbeitet vielmehr mit Kino- und Medienbildern, die er grell überhöht. Brutalste Gewalt wenn Sailor einem Gegner seinen Kopf auf einer Marmorstiege förmlich zermanscht oder sich ein Gangster bei einem Banküberfall den Kopf im wahrsten Sinne des Wortes selbst wegschießt, steht neben hemmungslosem Kitsch, wenn beispielsweise Sailor immer wieder betont, dass seine Schlangenlederjacke Ausdruck seiner persönlichen Freiheit sei und am Ende auf der Kühlerhaube eines Straßenkreuzers für Lula "Love Me Tender" singt. Nur aus Zitaten und Klischees besteht dieser Film, ist freilich aber gerade dadurch nah am wirklichen Leben.

Im Gegensatz zu "Blue Velvet" und "Wild at Heart" gibt es in "Lost Highway" (1996) kaum eine nacherzählbare Handlung. Die den Film eröffnende Fahrt auf einem nächtlichen Highway stimmt auf eine Reise in die Nacht oder in die Hölle ein, die kein Ende zu nehmen scheint. So klar man am Beginn der Geschichte eines Paares, das durch anonym zugesandte Videokassetten terrorisiert wird, folgen kann, so sehr wird diese Sicherheit durch einen völligen Bruch in der Mitte des Films erschüttert.

Weil sich die Handlung nicht mehr vorwärts, sondern sich am Ende wieder förmlich in einer Endlosschleife zum Anfang des Films hin zu entwickeln scheint, wird ununterscheidbar, was Realität, Traum, Einbildung oder Paranoia der Hauptfigur ist. Nichts ist gewiss in dieser Welt der Doppelgängerinnen und Verdoppelungen. Durchlöchert ist die Dramaturgie, nicht das Gezeigte, sondern die Leerstellen zwischen den einzelnen Szenen scheinen das Zentrum dieses düsteren Thrillers zu sein.

Logisch lässt sich in "Lost Highway" nichts erklären, doch durch die visuelle Gestaltung und das atemberaubende Sounddesign, zu dem Songs von David Bowie, Rammstein oder "I put a spell on you" gesungen von Marilyn Manson ebenso gehören wie dumpfe Geräusche, wird ein Klima der Bedrohung und Beunruhigung evoziert, das hinter der scheinbar glatten Oberfläche immer Abgründe der menschlichen Seele erahnen lässt.

Weil das Grauen dabei aber mehr spürbar als konkret fassbar und sichtbar wird, verlängert sich die alptraumhafte Wirkung dieses Films über sein Ende hinaus.

Aber nicht nur Lynchs Filme an sich, sondern auch die Wendungen innerhalb seines Werks können Irritation auslösen. So ließ er auf den verschlungenen und düsteren "Lost Highway" den geradlinigen und in warme Herbstfarben getauchten "The Straight Story" (1999) folgen. Mit dem ländlichen Mittelwesten von Iowa und Wisconsin kehrte Lynch damit in die Region von "Blue Velvet" und der Fernsehserie "Twin Peaks" zurück, schildert diese Welt aber zumindest an der Oberfläche durch und durch friedlich.

Erschossen wird in diesem, auf einem realen Vorfall beruhenden Film nur ein Rasenmäher und auch Sexszenen fehlen völlig. Vielmehr erzählt Lynch mit größter Gelassenheit vom alten Alvin Straight (Richard Farnsworth), der mit seinem motorisierten Rasenmäher 500 Kilometer von Iowa nach Wisconsin fährt, um sich, seinen baldigen Tod fürchtend, noch mit seinem Bruder, mit dem er sich vor zehn Jahren überworfen hat, zu versöhnen.

So geradlinig – ganz dem mehrdeutigen Titel entsprechend "straight" – die Erzählweise und so sanft die Musik von Lynchs Stammkomponisten Angelo Badalementi sind, so ruhig begleitet die vom Himmel herab gleitende Kamera von Freddie Francis Alvin Straight auf seiner Fahrt und schließt ihn gewissermaßen sanft in die Arme und dennoch schlummern trotz dieses warmherzigen, von Güte und Liebe getragenen Blicks auf die Menschen immer auch Risse und Bedrohliches unter dem äußeren Schein.

Da gibt es die sprachbehinderte Tochter Straights, die darunter leidet, dass die Fürsorge ihr die Kinder weggenommen hat, eine Autofahrerin, die beinahe einen Nervenzusammenbruch erleidet, weil sie jede Woche ein Reh niederfährt oder ein schwangerer Teenager, der von zuhause abgehauen ist.

Und auch Straight muss sich auf seiner Reise seiner Vergangenheit stellen, erinnert sich daran, dass seine verstorbene Frau 14 Kinder geboren hat, von denen nur sieben überlebten, und wird bei einem Gespräch mit einem Altersgenossen an ein traumatisches Kriegserlebnis erinnert, das ihn seit Jahrzehnten zu quälen scheint. - Die heile Welt und der Traum von der heilen Familie – ein zentrales Thema des amerikanischen Kinos von John Ford bis Steven Spielberg – erfüllt sich bei aller Versöhnlichkeit auch in diesem Film nicht.

Und wie in den anderen Filmen Lynchs kann man letztlich auch in "The Straight Story" eine Auseinandersetzung mit amerikanischer Geschichte und amerikanischen Mythen sehen. Denn mit der Fahrt von Iowa nach Wisconsin wird die amerikanische Ost-West-Bewegung des 19. Jahrhunderts umgedreht, wird dem "Go West, Young Man" ein "Go East, Old Man", der Reise ins Leben eine Reise in den Tod, aber auch dem aggressiven Expansionsdrang ein Weg der Versöhnung gegenübergestellt.

Nach diesem geradlinigen Road-Movie kehrte David Lynch mit "Mulholland Drive" (2001) und "Inland Empire" (2006) wieder zu seinen düsteren und kaum zu entschlüsselnden Reisen in die Abgründe der menschlichen Psyche zurück. Statt nach vorwärts scheint sich die Handlung in diesen Filmen wieder im Kreis zu entwickeln, scheinen Figuren sich zu spiegeln, doch nichts ist hier gewiss, denn immer wenn man glaubt, dass sich Szenen zu einem Ganzen fügen, brechen diese Filme wieder abrupt ab und setzen neu an.

Verstehen kann man diese Filme, die immer wieder mit spiegelbildlichen Figuren und Szenen arbeiten, wohl nicht mehr, oberstes Ziel des Regisseurs scheint Beunruhigung und Verunsicherung des Zuschauers zu sein. Wie virtuos er dabei freilich mit Farbe, Licht, Raumdramaturgie und Sound-Design arbeitet, zeichnet ihn als Meister der Siebten Kunst aus.

Umso erfreulicher ist deshalb, dass Lynch, der in den letzten zehn Jahren nur Kurzfilme und Videos gedreht hat und sich vor allem der Verbreitung der Transzendentalen Meditation gewidmet hat, nun für den Kabelsender Showtime an der dritten Staffel der Serie "Twin Peaks" arbeitet, die 2016 ausgestrahlt werden soll.

Interview mit David Lynch