Inland Empire

Fünf Jahre nach "Mulholland Drive" meldet sich David Lynch im Kino zurück. Knapp drei Stunden lang ist sein neues Opus, verschlungen bis zum Zerfall in irgendwie doch wieder verbundene Einzelteile. Verunsicherung und Angst wird dabei für einmal aber nicht durch gestochen scharfe düstere Bilder, sondern durch unscharfe, grobkörnige Videobilder ausgelöst. – Zu verstehen gibt’s hier wohl nichts, aber gerade dadurch schafft Lynch eine beunruhigende und jede Sicherheit raubende Atmosphäre.
Beunruhigung schafft von Anfang an – wie bei vielen Filmen von David Lynch – das Sound-Design: Ein Brummen, Pochen und Hämmern verunsichert den Zuschauer schon vor den ersten Bildern. Diese freilich verstärken sogleich die sowieso schon düstere Atmosphäre: Von einer Nadel, die eine Schallplatte ritzt, wird auf einen dunklen Gang überblendet und eine Stimme erklärt: "Ich habe Angst". Von diesen schwarzweißen Bildern wiederum wechselt der Film zu einer TV-Sitcom, in der Menschen mit Kaninchenköpfen Hausarbeit wie Bügeln verrichten. Die Sitcom ist allerdings wieder Film im Film, denn vor dem Fernseher sitzt eine Frau, der eine Träne vom Auge über die Wange rollt.
Grund gelegt sind mit dieser furiosen Verschränkung in der Eröffnungsszene das zentrale Thema der Verunsicherung und Angst, aber auch die Erzählstrategie, die sich gerade durch eine konsequente Verweigerung der klassischen Narration auszeichnet. Denn die Kaninchen-Sitcom wird zwar noch mehrmals vorkommen und einmal schaltet sich per Telefon eine Filmfigur sogar direkt in diese Sendung ein, doch der Konnex dieser Szenen bleibt so schleierhaft wie der, der ebenfalls noch mehrmals vorkommenden Nadel auf einer Schallplatte und der Frau mit der Träne auf der Wange.
Vielmehr kristallisiert sich in der Folge die von Laura Dern phänomenal gespielte Schauspielerin Nikki Grace als Hauptfigur heraus. Sie soll in einem Film die Hauptrolle spielen, der schon einmal begonnen wurde, dessen Dreharbeiten nach einem brutalen Mord aber abgebrochen wurden. Noch vor Nikki aber die Zusage für die Rolle bekommt, erscheint bei ihr eine neue in einem Backsteinhäuschen im Wald wohnende Nachbarin, die mit osteuropäischem Akzent immer düsterere Dinge prophezeit und Nikki scheinbar in die Zukunft schauen lässt. Vom Einbruch des Bösen und den Konsequenzen jeder Handlungen erzählt die mysteriöse Frau in ihren viele Märchenmotive beinhaltenden dunklen, sich auf Andeutungen beschränkenden Ausführungen.
Wenig später beginnen dann tatsächlich die Dreharbeiten am Film und Nikki spielt die Hauptrolle. Die Grenzen zwischen "Realität" und Film im Film verschwimmen dabei immer mehr. Nicht nur in ihrer Rolle, sondern auch in der Realität scheint sich Nikki – ganz zum Missfallen ihres polnischen Gatten - in ihren Filmpartner, der ein berüchtigter Playboy ist, zu verlieben. Aber nicht nur die Grenzen zwischen Film und Realität sowie jegliche Zeitstruktur verschwimmen, sondern auch jedes räumliche Gefühl wird aufgelöst, denn in die kalifornischen Szenen schneidet Lynch immer wieder solche von einer verschneiten Straße in Polen und lässt dabei im Rokoko-Zimmer einer alten Villa polnisch sprechende Figuren auftreten.
Bewusst verworren, ja nicht entschlüsselbar ist die Handlung. Lynchs Ziel scheint es durch eine Auflösung der Zeitstruktur, also durch Verschmelzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, eine Auflösung der räumlichen Kohärenz, scheinbar(?) zusammenhangslos reiht er in Hollywood und in Polen spielende Szenen aneinander und eine Aufhebung der Erzählperspektive den Zuschauer zu verunsichern. Bewusst unklar lässt er so, ob alles nur die weinende Frau im Fernsehen sieht, ob alles nur Erzählung von Nikkis Nachbarin ist oder ob sich Nikki Grace alles nur einbildet oder träumt.
Indem jede Kausalität der Handlung aufgelöst wird, wird dem Zuschauer der Boden unter den Füssen weg gezogen. Ständig muss er sich neu orientieren, da die Handlung immer wieder bricht, da nie klar ist, was als nächstes passiert. Tiefste Verunsicherung erzeugt dieses absolute Ausgeliefertsein an den fast gottgleich nach Belieben schaltenden und waltenden Regisseur.
Schon der Filmtitel lässt mehrere Deutungen zu. Real ist "Inland Empire" eine südkalifornische Region im Hinterland von Los Angeles – und der Film nimmt im Dialog auch darauf Bezug –, doch viel konkreter scheint dies bei Lynch eine Region im Kopf seiner Protagonisten oder auch des Zuschauers zu sein. Konsequent löst der amerikanische Regisseur die Grenzen zwischen Realität, Traum, Wahn und Imagination auf und steigert diese alptraumartigen Eindrücke noch durch das Drehen mit digitaler Videokamera. Unscharfe, grobkörnige, alles andere als perfekt ausgeleuchtete, aber teils extrem nahe Einstellungen erzeugen einerseits den Eindruck eines Home-Movie und verstärken andererseits die Verunsicherung.
Aber nicht nur in die Abgründe des Bewusstseins versucht Lynch mit "Inland Empire" vorzudringen, sondern er scheint auch mit Hollywood und den Erzählstrategien der Traumfabrik abzurechnen. Den legendären Hollywood-Schriftzug und den Walk of Fame rückt er nur ins Bild um dann zu den damit verbundenen Vorstellungen einen bitteren Kontrast zu setzen. Der Linearität von Hollywood stellt Lynch seine Verworrenheit, der Sauberkeit der Traumfabrik Sex und Gewalt (vor allem gegen Frauen) gegenüber.
Keine Stars bevölkern hier den Walk of Fame, sondern Obdachlose liegen neben den in den Boden gegossenen Sternen und halten kurz vor Ende des Films einen endlos langen Dialog. Nahezu unerträglich sind diese geschwätzigen Passagen, die in "Inland Empire" nicht fehlen, doch immer wieder und auch am Ende findet der Film dann doch wieder zu fulminanten mehrminütigen wortlosen Szenen, die in die Abgründe abtauchen lassen und in der alle Angelhaken und Gegensätze verschränkt werden.
Um als Meisterwerk in die Filmgeschichte eingehen zu können, ist David Lynchs zehnter Kinofilm viel zu experimentell, vielleicht auch viel zu zufällig und inkohärent. Genaues Drehbuch gab es für diesen Film nämlich keines. Die "Kaninchen"-Szenen entnahm Lynch einfach seiner eigenen nur online erschienenen Kurzfilmserie "Rabbits" (2002) und die polnischen Szenen entstanden zufällig, während Lynch das Filmfestival im polnischen Lodz besuchte. Mit einheimischen Festivalgästen drehte er damals einige Szenen. Beliebig scheinen diese Elemente in das Spielfilmprojekt "Inland Empire" integriert worden zu sein. – Verunsichern, beunruhigen, und auch überraschen kann Lynch mit diesem ebenso genialen wie vielleicht zerfahrenen und hemmungslos wild wucherndem Film aber allemal.
Wird am Freitag, den 22.1. und am Samstag, den 23.1. sowie am Freitag, den 29.1. und am Samstag, den 30.1. jeweils um 22 Uhr im Takino Schaan gezeigt (O.m.U.)
Trailer zu "Inland Empire"
Die Meinung von Gastautoren muss nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen. (red)