Hier steh‘ ich nun…

Franziska Keller, Gewinnerin des Karin Hollweg Preises 2013, zeigt ihre neuesten Arbeiten im Paula Modersohn-Becker Museum. Ein Objekt und drei raumgreifende Installationen interagieren mit den örtlichen Gegebenheiten und lassen die Besucher unmittelbar Teil eines Dialogs über Raum, Zeit und Objekt werden. Keller begreift die künstlerische Arbeit nicht als einen Geniestreich, der auf dem handwerklichen und kreativen Geschick der Künstlerin fußt, sondern als bildnerisches Mittel, um die Alltäglichkeit der Dinge und deren inhaltliche Verstrickung zu hinterfragen.

Dabei arbeitet sie – ganz im Sinne einer konzeptuellen Strategie der Appropriation Art – überwiegend mit vorgefundenem ästhetischem Material, das ehemals Teil des alltäglichen Geflechts aus Dingen, Menschen und Sprache war. Seiner ursprünglichen Funktion bzw. seinem Nutzungskontext enthoben und durch Ansammlung, Neusortierung und teilweise Modifizierung in einen neuen Zusammenhang gebracht, forciert dieses Material einen frischen Blick auf die Dingwelt. Absurde Momente werden erzeugt und regen zur Spekulation darüber an, ob die Dinge möglicherweise zu mehr in der Lage sein könnten, als der Mensch ihnen aus seinem herkömmlichen Weltverständnis heraus zutraut.

In der Arbeit "Wandung" (2014) bettet die Künstlerin ein Konstrukt aus zusammengesetzten Fallrohren so in den Raum, dass es ein in sich geschlossenes System ergibt. Es scheint, als würden die Rohre allein durch die Wände in ihrer Position gehalten. Der Verlauf der Rohre folgt keiner glatten Linie, sondern imitiert die Form der herkömmlichen Aufhängung von Wandkalendern; die Metallbügel mit ihrer halbrunden Ausformung in der Mitte, an denen sie aufgehängt werden.

Versatzstücke von Kalendern finden sich auch in zwei weiteren Arbeiten. In "Die Zeit ist hin" (2014) greift Franziska Keller zwei Zeilen aus dem gleichnamigen Gedicht von Theodor Storm auf: "Hier steh" ich nun und schaue bang zurück; Vorüberrinnt auch dieser Augenblick". 400 kg Kalenderblätter, aufgereiht in einer sich quer durch den Raum spannenenden Linie, zeichnen die pulsierende Audiospur des gesprochenen Zweizeilers nach. Der Moment des Sprechens über den verrinnenden Augenblick wird festgehalten und in eine dreidimensionale Form transformiert. So wird nicht nur Sprache in den Raum übertragen, sondern indem Vergangenes, nämlich die benutzten und entsorgten Kalender, in die Gegenwart zurückgeholt wird, gelingt es der Künstlerin, die Vergangenheit zu reaktivieren und mit neuer Bedeutung aufzuladen. Die aufgereihten Kalenderblätter drücken, als geballtes Hier und Jetzt, gegen die Wände nach außen und versuchen so, ihre Existenz zu sichern.

Für die Arbeit "Die Zeit ist hin" hat Franziska Keller Kalender »entspiralisiert«. Diese sowie weitere Spiralbindungen, beispielsweise von alten Notizblöcken, finden Verwendung in dem Drahtspiralkubus o. T. (2014). Zusammengepresst formen sie einen rechteckigen Kubus, der auf einem gewölbten, mit zwei Rollen versehenen Eisengestell ruht. Einst die Halterung für ein Schaukelpferd, fungiert das Gestell nun als Sockel für den Drahtspiralkubus und verbindet sich mit ihm zu einer skurrilen Einheit. Die unterschiedlich gefärbten Drahtspiralen bilden in ihrer Anhäufung ein undurchdringbares Gewirr aus Linien, deren Verlauf das Auge nicht vollständig zu folgen vermag. Durch die Umfunktionierung sowohl der Drahtspiralen als auch des Eisengestells sind Vergangenheit und Gegenwart auch in diesem Objekt vereint. Die Spur des Menschen, der die Dinge benutzt hat, ist noch vage spürbar.


Franziska Keller - "Hier steh‘ ich nun…"
Karin Hollweg Preis 2013
2. November 2014 bis 1. Februar 2015