Haydns "Die Jahreszeiten" als Ballettabend an der Wiener Staatsoper

Das letzte große Oratorium Joseph Haydns ist für sich schon ein imposantes Riesenwerk. Mit der zweieinhalb-stündigen Choreografie von Martin Schläpfer wird die Aufführung in der Wiener Staatsoper jedoch zum beeindruckenden Ereignis und erweitert das Zuhören in ungewohnte Vielschichtigkeit.

Der (Noch-)Direktor des Wiener Staatsballetts schöpft aus dem Vollen, nicht nur beim Einsatz von hundert Tänzerinnen und Tänzern. "Die Jahreszeiten" einmal zu vertanzen, gährte über Jahrzehnte in Martin Schläpfers Vorstellung, nun war die Zeit reif: "Beim erneuten Hören der 'Jahreszeiten' betörte mich die Musik mit ihrer Kraft und Schönheit, aber auch der Text wie damals: weil er so demütig ist, so rein und doch deftig feiern, andächtig loben und tief trauern kann. Er kriecht aus einer anderen Zeit herauf, einer anderen Gangart, die aber eine reale ist und das Werk mit einer großen Menschlichkeit umgibt."

Gleich nach dem Erfolg der "Schöpfung" (1798) komponierte der hochbetagte Joseph Haydn freudig sein viertes und letztes Oratorium als volkstümliches Singspiel, das in manchem wie eine Fortsetzung wirkt. Waren es in der "Schöpfung" die einzelnen Tage der Welterschaffung, so ist es in "Die Jahreszeiten" ein Verlauf von Frühling bis zum Winter, der über drei Solostimmen und Chor eindrücklich geschildert wird. Kaum vorstellbar, dass was im Opernhaus ertönt, rein physisch im Orchestergraben Platz finden kann: Der Arnold Schönberg Chor unter Leitung von Erwin Ortner ist zu Gast, Adam Fischer dirigiert das Orchester der Wiener Staatsoper. Großartig und in unglaublicher Präzision und Strahlkraft werden die vier ausufernden Kantaten musiziert. Wunderbar die Parts des Pächters Simon, alias Martin Häßler (Bass), dessen Tochter Hanne, Miriam Kutrowatz (Sopran), und des jungen Bauers Lukas, Josh Lovell (Tenor).

Bühne frei für den Tanz. Die Hauptfiguren zieht Martin Schläpfer mit drei Ersten Solotänzern durch seine Choreografie, handlungsmäßig nicht immer den Gesang doppelnd, sondern im freien Geflecht der Beziehungen. Und doch gibt es wieder Deutungen des Librettos in pantomimischer Gestik, wenn die Fische wimmeln, die Lämmer springen, die Bienen schwärmen, die Vögel flattern. Bei musikalischen Rezitativen scheinen sogar Grundformen der Gebärdensprache durch. Das Mitlesen der Textzeilen ist ein beträchtlicher Mehrwert, der Ironie – wenn im Herbst die "Schönen aus der Stadt" mit Hutscheiben antanzen – und Eindringlichkeit – wenn der Chor "Juchhe! Juchhe! Der Wein ist da" erschallen lässt und nicht trunkener Volkstanz, sondern eine Prozession den dritten Satz abschließt – begleitend nachvollziehen lässt. Schläpfer schafft es mit seinem Ballett das Gemälde eines Alten Meisters mit all den anekdotischen Handlungssequenzen und Naturschilderungen ins Heute zu holen: Die herausfordernde Realität will er nicht in konkreten Bildern auf die Bühne bringen, "man braucht ein abstraktes Bild, ein Bild, das in Erinnerung ruft, aber nicht konkret nachstellt oder nachzeichnet. Danach habe ich gesucht."

Sehr zurückhaltend das Setting: Für Bühne und Kostüme zeichnet die schwedische Künstlerin Mylla Ek verantwortlich. Dass die riesigen Schalen oder Segel, die unmerklich ihre Kreise am Bühnenhimmel ziehen, abstrahierte Windungen des Gehäuses einer Meeresschnecke sind, ist nur mit Anleitung assoziierbar: "Während des Arbeitsprozesses bin ich auf das kleinste Haus(-Symbol) gestoßen, das ich finden konnte: eine Muschel als vergrößerter Mikrokosmos, eine Abstraktion, die zusammen mit den Tänzerinnen und Tänzern einen Raum erschafft." Wer in der Pause gegangen ist, versäumte den Winter. Und spätestens dann wird das Szenenbild schlüssig verdichtet. Auch inhaltlich, musikalisch und tänzerisch. In tiefer Ergriffenheit zieht das Publikum von dannen.

Die Jahreszeiten
Musik: Joseph Haydn
Text: Gottfried van Swieten nach James Thomsons "The Seasons"
Choreographie: Martin Schläpfer
Musikalische Leitung: Christoph Altstaedt
Bühne und Kostüme: Mylla Ek
Licht: Thomas Diek

Hanne (Sopran): Miriam Kutrowatz
Lukas (Tenor): Josh Lovell
Simon (Bass): Martin Häßler

Arnold Schoenberg Chor
Choreinstudierung: Erwin Ortner
Orchester der Wiener Staatsoper
Wiener Staatsballett

Uraufführung 30.4.2022, Wiener Staatsoper