Anlässlich seines 100. Geburtstagsjubiläums zeigt die Wiener Albertina eine große Retrospektive des Pop-Art-Künstlers Roy Lichtenstein (1923–1997, New York). Sie umfasst um die 100 bedeutende Gemälde, Skulpturen und Papierarbeiten von den Anfängen der Pop-Art in den 1960er Jahren bis zum Spätwerk, mit großzügigen Leihgaben aus europäischen und U.S.-amerikanischen Museen und Privatsammlungen.
Roy Lichtenstein kehrt in den 1960er Jahren – noch während der Hochblüte des abstrakten Expressionismus – zu einer gegenständlichen, selbstreflexiven Kunst zurück und reißt mit viel Ironie die Grenzen zwischen hoher Kunst und Alltagskultur nieder. Look Mickey ist ein Angriff auf die Konvention: Einfache Comicbilder und Werbeinserate werden in die monumentale Form von Historienbildern gegossen, was einer Attacke auf die Würde der Kunst gleichkommt. Comics und erst recht Produktwerbungen in Zeitungen und Telefonbüchern gelten als nicht kunstwürdig. Lichtenstein isoliert und monumentalisiert den Comic und holt ihn ins Museum – eine absurde und ironische Geste, die er dem Vorurteil der Abgehobenheit entgegensetzt, das die Konsumgesellschaft von der modernen Kunst hat.
Trotz mehr oder weniger ernsthaft gemeinter Plagiatsvorwürfe und heftiger Besucherproteste ist seine erste Ausstellung 1962 in der Galerie Leo Castelli in New York noch vor der Eröffnung ausverkauft. Lichtenstein wird quasi über Nacht berühmt und verhilft der amerikanischen Pop Art zum Durchbruch. Mit Andy Warhol und Jackson Pollock gilt er heute als einer der drei populärsten und berühmtesten U.S.-amerikanischen Künstler. Außerdem wurde er zum einflussreichsten Vorläufer der Appropriation Art und zum Vorreiter der Verschmelzung von High und Low Art in der Gegenwartskunst.
Lichtensteins Kunst ist keineswegs moralisierend, aber affirmativ ist sie auch nicht. Sie spiegelt eine in den 1960er-Jahren bereits ambivalente Haltung gegenüber der Bildmaschinerie der Werbeindustrie wider, deren Ästhetik Lichtenstein ins Feld der Kunst und ins Museum holt.
Jeden Niederschlag eines Temperaments, jede Äußerung einer politischen Haltung zu unterbinden ist Teil seines höchst formalistischen Konzepts: Lichtensteins Bilder sollen aussehen, als ob eine Maschine sie hergestellt hätte. Er imitiert das Erscheinungsbild des billigen und schnellen Massendruckverfahrens, das zu seinem Markenzeichen wird: Seine Bildsprache kennt nur wenige Umrisslinien und Primärfarben sowie die monotonen Rasterpunkte – die durch ihn erst berühmt gewordenen "Ben-Day-Dots", die Rasterpunkte für die Tonwerte der Grafikvorlage im Druck, benannt nach ihrem Erfinder Benjamin Day. Lichtenstein bringt sie mit Schablonen auf seine Leinwände auf, ab 1963 stellt er für diese Prozedur Assistenten an. Der Grund, warum die ersten Ausstellungen die Kunst der Pop Art und mit jener des Minimalismus vereinten, liegt – bei allen Unterschieden in dem was auf den Bildern dargestellt ist – in ihrem gemeinsamen Nenner: Antisubjektivismus, Serialität und industrielle Fertigung. Sie glauben nicht mehr an das Pathos des subjektiven Ausdrucks, der Emotionalität des Künstlers und der Echtheit seiner Gefühle.
Nachdem er den Comic ins Feld der Kunst transferierte, malt er ab Mitte der 1960er Jahre minimalistische Landschaften auf Emailletafeln, einem schmutzabweisenden witterungsbeständigen Material für die Schilder der Geschäfte oder Subway. Die Wahl eines solchen glänzenden, reflektierenden Materials als Träger eines Kunstwerks und in einem Innenraum ist völlig absurd und grotesk.
Lichtenstein spielt mit der Macht der Klischees, von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie von Kunst. Er greift die Bildsprache der Werbeinserate und Comicromane der populären Massenkultur auf, die von der Wiederholung der immer gleichen, standardisierten Stereotypen lebt, und eignet sie sich an. Mit der Migration ins Feld der Kunst verändert sich das Motiv vollkommen. Die Vergrößerung, Isolierung, Objektivierung und der Antisubjektivismus abstrahieren es, verwandeln das kunstunwürdige Sujet in ein Kunstwerk voller Harmonie und Schönheit – womit er die klischeehaften Erwartungen an Kunst verletzt und einen Tabubruch begeht. Später eignet er sich in dem mittlerweile zu seinem Markenzeichen gewordenen Comicstil Werke der Kunstgeschichte von Picasso bis Dalí an, oder gießt Pinselstriche à la Jackson Pollock in Bronze – macht sie lächerlich.
Roy Lichtenstein
Zum 100. Geburtstag
8. März bis 14. Juli 2024