Glanzvolle Beschwörungen des Untergangs: Luchino Visconti

Wie kein zweiter Regisseur konnte der Italiener Luchino Visconti in opernhafter Überhöhung den Untergang der aristokratischen und die Dekadenz der bürgerlichen Gesellschaft schildern. Viscontis Anfänge liegen aber im Neorealismus, zu dem er mit "Ossessione", "La terra trema" und "Rocco e i suoi fratelli" drei Meisterwerke beisteuerte. Das Filmpodium Zürich widmet dem Meisterregisseur im Oktober und November eine Retrospektive.

Obwohl Luchino Visconti aus einem alteingesessenen Mailänder Adelsgeschlecht stammte, wandte er sich in den 1940er Jahren dem Marxismus zu – ein Widerspruch, der auch seine Filme kennzeichnet: Auf inhaltlicher Ebene wird dem dekadenten Bürgertum eine Absage erteilt, formal allerdings wird dieser Untergang mit einer Opulenz geschildert, die selbst an Dekadenz grenzt und in der unübersehbar eine Faszination für die untergehende Epoche mitschwingt.

Visconti gehörte zwar zu den Mitbegründern des Neorealismus, verfilmte aber anders als Roberto Rossellini mit "Roma citta aperta" (1945) oder Vittorio de Sica mit "Ladri di biciclette" (1948) schon mit seinem Debüt keine typische Alltagsgeschichte, sondern einen Thriller des US-Autors James M. Cain. Dessen "The Postman Always Rings Twice" verlegte der Mailänder in "Ossessione" (1942) ins Po-Delta und konzentrierte sich auf die Schilderung der Menschen und ihrer Lebensumstände. Die Kriminalgeschichte war für Visconti nur der Anlass italienische Wirklichkeit jenseits vom Luxusmilieu zu zeigen. Mit vielen anderen Filmen Viscontis teilt "Ossessione" das Schicksal der Verstümmelung. Von der Zensur radikal gekürzt konnte später eine Fassung rekonstruiert werden, die dem Original wenigstens nahe kommt.

Aus kommerziellen Gründen gekürzt – und damit zerstört – wurde Viscontis zweiter Film "La terra trema" (1948). Mit der Not sizilianischer Fischer ist der Ausgangspunkt dieses ursprünglich dreistündigen Epos zwar realistisch, doch Viscontis Inszenierung überhöht das Geschehen opernhaft. Gleiches gilt für "Rocco e i suoi fratelli" (1960), in dem Visconti eine Familiengeschichte mit Handlungsmotiven aus dem Werk Dostojewskis und Thomas Manns auflädt. Durch diese Überhöhung gewinnt das realistische Sozialdrama vom Gegensatz zwischen dem hochindustrialisierten Norditalien und dem rückständigen Mezzogiorno an Expressivität und Eindringlichkeit.

Nicht das Kino, sondern die klassischen bürgerlichen Künste haben Visconti geprägt. Sooft das Geld für einen neuen Film fehlte, hat er folglich für die Bühne gearbeitet, wo er Opern ebenso inszenierte wie Dramen von Shakespeare, Cocteau oder Arthur Miller. Einer anderen Zeit fühlte er sich zugehörig, seine Geistesverwandten sah er in Thomas Mann und Marcel Proust, doch die Verfilmungen von "Der Zauberberg" und "À la recherche du temps perdu" blieben nie realisierte Wunschprojekte.

Der Untergang einer Epoche – das war Viscontis Thema und bestimmt viele seiner Filme von "Senso" (1954) bis zu "L`Innocente" (1976). Am vollendetsten formulierte er seine Themen wohl in dem gewaltigen Geschichts- und Gesellschaftsepos "Il Gattopardo" (1963). Verpackt in eine konkrete Geschichte wird geschichtsphilosophisch über Revolution und Reaktion reflektiert. "Die Dinge müssen sich ändern, um die gleichen zu bleiben" lautet das Plädoyer des Fürsten Don Fabrizio, doch bald muss er einsehen, dass die Dinge nicht die gleichen bleiben werden: Visconti betrauert den Untergang der Aristokratie und verurteilt das von Anfang an korrupte Bürgertum, das sozialistische Bewegungen mit Gewalt unterdrückt.

Wie im Italien des Risorgimento findet Visconti auch im todesschwangeren Porträt des bayrischen Märchenprinzen "Ludwig" (1972) eine Geschichte vom Niedergang des Adels. Besseres folgte freilich in der Perspektive Viscontis nicht. Schon rein äußerlich morbid ist die Welt in der Thomas Mann-Verfilmung "Morte a Venezia" (1970). Gesteigert wird diese Beschwörung des Untergangs durch die Musik von Gustav Mahler, die langsam gleitenden Kamerabewegungen und die Blässe Dirk Bogardes in der Rolle des sterbenden Komponisten Aschenbach.

Das Bürgertum führt bei Visconti zum Faschismus und Nationalsozialismus. In dem wahrlich wahnsinnigen Melodram "La caduta degli dei/Die Verdammten" (1968) wird allein schon durch die atemberaubende Farbdramaturgie mit giftigen Grün- und düsteren Brauntönen sowie grell geschminkten Gesichtern ein Totentanz und eine Atmosphäre des Untergangs erzeugt. Den Aufstieg des Nationalsozialismus, verknüpft mit der Geschichte einer deutschen Industriellenfamilie, inszeniert Visconti als bildgewaltige, von jedem Realismus weit entfernte Oper. - So barock und überladen, ja maniriert, das Spätwerk Viscontis, das im Grunde schon mit "Il Gattopardo" beginnt, sein mag, so grandios und von zeitloser Faszination sind diese Beschwörungen des Untergangs durch das virtuose Zusammenspiel von Dekor und Musik, von Farbe und Bildkomposition. Unerreicht und ohne Nachfolger blieb der Mailänder darin.

Auftaktszene von "Senso"