Die Entdeckung der Wirklichkeit: Der Neorealismus

11. Juni 2007 Walter Gasperi
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Schon während des Zweiten Weltkriegs kam in Italien eine filmische Bewegung auf, die nicht nur das europäische Nachkriegskino prägte. Im Neorealismus wandte sich eine junge Generation von Regisseuren von den eskapistischen Dramen und Komödien der Mussolini-Ära ab und dem Alltag der einfachen Menschen zu.

Schon 1942 schuf Luchino Visconti mit »Ossessione« den Prototyp des Neorealismus. Geprägt von seiner Ausbildung bei Jean Renoir und dem Poetischen Realismus des französischen Vorkriegskinos verlegte der aus einer Mailänder Aristokratenfamilie stammende Visconti den düsteren Krimi »The Postman Always Rings Twice« von James M. Cain von Amerika ins Podelta. Die Krimihandlung tritt in den Hintergrund zugunsten einer schonungslos realistischen Schilderung von Land und Menschen.

Vorbild war dieses von der Zensur sofort verstümmelte Debüt für Roberto Rossellini und Vittorio De Sica, die sofort nach Kriegsende ihre ersten Filme drehten. Verbindet dieses Dreigestirn des italienischen Films der realistische Gestus, so unterscheiden sie sich in Stil und Schwerpunktsetzung doch beträchtlich. Fließt beim Aristokraten Visconti immer seine literarische und musikalische Bildung in die Filme ein, sodass er den Realismus opernhaft überhöht und aus einfachen Alltagsgeschichten große Tragödien modelliert, bleibt De Sica nicht nur bei seinem legendären »Ladri di biciclette« (1948) ganz nah beim Alltäglichen und den einfachen Menschen. Rossellini dagegen entwirft zumindest in seiner an der Schwelle zwischen Krieg und Frieden entstandenen Trilogie »Roma città aperta« (1945), »Paisà« (1946) und »Germania, anno zero« (1948) ein Panorama des Krieges und seiner Folgen, um sich dann formal regelrecht nackten Beziehungsanalysen zuzuwenden (»Stromboli«, 1949; »Viaggio in Italia«, 1953).

Diese realistische Schule floss aber auch ins populäre italienische Kino ein. Giuseppe De Santis »Riso amaro« (1949) ist ebenso dem Neorealismus zuzuodnen wie die »Don Camillo und Peppone«-Serie (1952 - 1965) davon geprägt ist. Endet die klassische Phase des Neorealismus auch etwa 1954 mit Viscontis Historienmelodram »Senso« und geht über in eine Phase der Überhöhung und Lösung von der bloßen Abbildung der Realität, so sind Regisseure wie Michelangelo Antonioni, Federico Fellini und Pier Paolo Pasolini doch von dieser Richtung geprägt und haben teilweise sogar ihre Anfänge in dieser Zeit.

Bedeutung hat der Neorealismus aber nicht nur für Italien. Das indische Kino eines Satyajit Ray ist ohne dieses Vorbild kaum denkbar und auch das Hollywoodkino der 1950er Jahre ist in seinen harten, teils fast dokumentarischen und an Originalschauplätzen gedrehten Krimis und dem Film noir davon geprägt. – Letztlich alle realistischen Filme und Schulen der Vergangenheit und Gegenwart werden wohl im Neorealismus bewusst oder unbewusst ihr großes Vorbild sehen und sind von dieser Epoche des Weltkinos geprägt.