Im Rahmen der Ausstellungsreihe "Fotografie neu ordnen" lädt das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG) die Künstler Katja Stuke und Oliver Sieber ein, eigene Werke mit historischen Arbeiten aus der Sammlung Fotografie und neue Medien des MKG in Beziehung zu setzen. Katja Stuke und Oliver Sieber haben rund 40 historische Fotografien und Farbholzschnitte aus der Sammlung des MKG sowie eine Reihe von Künstlerbüchern ausgewählt, denen sie zwölf mehrteilige Foto- und Videoarbeiten aus ihrem Werkkomplex "Japanese Lesso"n gegenüberstellen.
Seit 2005 arbeiten sie als Künstler und Vermittler zwischen der japanischen und der deutschen Kultur an dem umfangreichen Projekt. Stand am Anfang noch eine einzelne Video-Installation, in der die Künstler ihre Faszination für die visuelle Kultur Japans zu einem mitreißenden Strom aus gefundenem und eigenem Bildmaterial verarbeiteten, hat sich ihre Auseinandersetzung mit dem ostasiatischen Land immer weiter differenziert. Seit 2011 gehen sie unter dem Titel "Japanese Lesson" verschiedenen Phänomenen der japanischen Gegenwart nach und beschäftigen sich mit Subkulturen, Aktivismus und Protest oder der politischen Landschaft der Großstädte Tokyo und Osaka. Stukes und Siebers "Japanischstunde" ist weniger als eine Lektion für den Betrachter zu verstehen, sondern beschreibt die Arbeitsweise und den künstlerischen Prozess: Durch Spaziergänge, Beobachtungen und Begegnungen mit den Menschen, dem täglichen Leben vor Ort, mit Subkultur, Politik, Kunst und Musik unterrichten die Künstler sich selbst in japanischer Geschichte und Gegenwart, um durch die Annäherung an die fremde Kultur auch neue Sichtweisen auf die Situation im eigenen Heimatland gewinnen zu können.
Den Auftakt zur Ausstellung bildet die sich seit 2005 immer wieder modifizierende gemeinsame Video-Arbeit "Japanese Lesson" (2005–2015), die Stuke und Sieber selbst als "assoziatives Mashup" bezeichnen – eine Art Crash-Kurs in Kunst, Kultur und Geschichte Japans, in den jahrelange Recherche und die überwältigenden Eindrücke einer ersten Japan-Reise gleichermaßen einfließen. Das verarbeitete Material reicht vom klassischen Farbholzschnitt über Landkarten, Mangas, Pressefotografien, Filmstills und Magazinseiten bis hin zu eigenen Schnappschüssen und künstlerischen Arbeiten. Hier begegnet man Samurai und Salarymen, Kabuki und Cosplay, Geishas und Godzilla, Idylle und Atombombenabwurf gleichermaßen in einem fieberhaften Stream of conciousness. Im Kontrast hierzu stehen jüngere Arbeiten innerhalb des Projekts, wie "Activism and Landscape//Activist" (2012–2015), in der sich Stuke und Sieber konzentriert mit den Reaktionen auf die Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 auseinandersetzen. Das 35 Fotografien umfassende Tableau dokumentiert Begegnungen mit Aktivisten und Künstlern, zeigt Demonstrationen und Protestaktionen, porträtiert deren Protagonisten und konfrontiert die Betrachter mit Militär, Sicherheitskräften und der Überwachung des öffentlichen Raums. Mit dieser Arbeit bringen Stuke und Sieber auch ihre Forderung zum Ausdruck, dass Künstler sich positionieren und aktiv einbringen sollten.
In der Auseinandersetzung mit dem Geschehen im öffentlichen Raum nimmt das Interesse des Künstlerduos an der politischen Landschaft ihren Ursprung, dem sie in den sogenannten "Walking Meditations" weiter nachgehen. Diese Spaziergänge entlang der Grenzen verschiedener Stadtviertel von Osaka, Yokohama und Tokyo beschreiben die Künstler als einen meditativen Rhythmus aus Gehen und Fotografieren. So entstehen dichte Fotoserien, die detailreich die jeweiligen Stadtlandschaften beschreiben und zugleich verschiedene Fragen zum Verhältnis der Bewohner zu ihrer Umgebung aufwerfen: Kann ein Stadtviertel meine Identität bestimmen? Was sind Grenzen? Wem gehört die Stadt, und wer bestimmt, wie sie sich in Zukunft verändert? In "Walking Meditation #1. "In and Out" Sanya" (2017) führt die Kamera die Betrachter in 36 Bildern vom Ufer des Sumida mit dem Voranschreiten der Dunkelheit immer tiefer in die Straßen des Tokyoter Viertels Sanya. Das Gebiet mit einer langen Tradition als Wohnort von Tagelöhnern, einfachen Arbeitern und Handwerkern wurde offiziell längst anderen Stadtteilen zugeordnet. Unter dem Zugriff der Gentrifizierung hat sich der dortige Wohnraum zu günstigen Unterkünften für Rucksacktouristen verwandelt. Ähnliche Veränderungen stehen auch der Stadt Ichinomiya bevor, deren Strand zum Austragungsort der Wettbewerbe im Surfen der Olympischen Spiele 2020 bestimmt wurde. Den heutigen Zustand des Ortes dokumentieren Stuke und Sieber in der 30-teiligen Arbeit "Walking Meditation #9. "233 miles away" Ichinomiya" (2017), wobei sich die Entfernungsangabe auf das havarierte Kernkraftwerk Fukushima Daiichi bezieht.
Elf "Walking Meditations" und die währenddessen entstandenen Fotos haben Katja Stuke und Oliver Sieber 2017 in einem Künstlerbuch zusammengefasst, das in der Ausstellung sowohl als Objekt als auch in einer filmischen Inszenierung zu sehen ist. Die große Faszination japanischer Fotografen für das Fotobuch seit den 1960er Jahren und die dort entwickelte Fotobuchkultur mit Kleinstauflagen spiegeln sich auch in Stukes und Siebers künstlerischer Praxis, in der Fanzines und Fotobücher eine wichtige Rolle spielen. Beide treten nicht nur als Künstler hervor, sondern auch als Akteure und Vermittler der Fotobuchkultur.
In den individuellen Arbeiten, die Katja Stuke und Oliver Sieber für die Ausstellung im MKG ausgewählt haben, konzentrieren sich die Künstler auf die einzelne Person und die Auseinandersetzung mit dem fotografischen Porträt, zeigen aber auch hier Reisende zwischen den Kulturen. Das Verhältnis von Mensch und Stadt, das gesellschaftliche Zusammenleben, aber auch die Assoziationen, die bestimmte Techniken der Bilderzeugung auslösen, thematisiert Katja Stuke in ihrer Arbeit "CCTV" (2000–2005). Hinter der Abkürzung verbirgt sich die im Englischen gebräuchliche Bezeichnung "Closed Circuit Television" für die Videoüberwachung privater und öffentlicher Räume. Als Touristin getarnt fängt Katja Stuke auf Straßen und Plätzen unbemerkt Alltagsszenen mit dem Zoom der Videokamera ein. Aus dem Material wählt sie einzelne Szenen aus, die sie vom Bildschirm abfotografiert, um so aus wenigen flüchtigen Augenblicken die Geschichte einer fast zärtlichen Observation zu machen. Den selbstvergessenen japanischen Punk hebt sie mit ihrer Kamera so in einem scheinbar unbeobachteten Moment aus der Menge der anonymen Passanten hervor. Oliver Sieber zeigt einzelne Werke aus der Reihe "J_Subs" (2006) – eine Anspielung auf eine der ersten britischen Punkbands UK Subs –, in der er in klassischen Brustporträts junge Frauen und Männer aus Osaka porträtiert, die sich Jugendkulturen zwischen Punk und Rockabilly zugehörig fühlen. In Kleidung, Accessoires, Frisuren, Haarfarbe und Make-up spiegelt sich zum einen die Suche nach der eigenen Individualität und Identität, zum anderen lassen sich diese Zeichen einer Gruppenzugehörigkeit aber auch als Absage an Normen und Konventionen einer stark reglementierten Gesellschaft verstehen.
Die Bilder aus den Serien "CCTV" und "J_Subs" veranschaulichen zusammen mit einzelnen in die Ausstellung integrierten Stadtansichten, wie Stuke und Sieber die ganze Bandbreite fotografischer Techniken zwischen Installation, Serie, Fotofilm, Künstlerbuch und Einzelbild für ihr Projekt nutzen. Zugleich dienen ihnen diese Werke dazu, eigene Themen und Interessen mit Fotografien aus dem Bestand des MKG in Beziehung zu setzen und zu verschränken. Ein Augenmerk liegt dabei auf der konstanten Veränderung der Stadt Tokyo und dem Kontrast zwischen traditionellen Formen der Architektur und ihrer heutigen Erscheinung. Ihren eigenen Bildern aus Tokyo – etwa der Ansicht einer Brücke, unter der Obdachlose provisorische Hütten gebaut haben – stellen Stuke und Sieber Fotografien aus der Meiji-Zeit, Bilder aus den 1930er Jahren von Kuwabara Kineo und 1977 entstandene Aufnahmen traditioneller Häuser von Takanashi Yutaka an die Seite. Stuke und Sieber haben außerdem auf den Spuren von Ishiuchi Miyako die Stadt Yokosuka besucht, in der sich noch heute die größte US-amerikanische Marinebasis in Japan befindet. In unmittelbarer Anknüpfung an die ebenfalls in der Ausstellung gezeigte Serie "Yokosuka Story" der Fotografin aus den Jahren 1977/79 gehen die Künstler dem in Japan weiterhin stark diskutierten Einfluss der Amerikaner auf Politik und Kultur des Landes nach. Die Bilder ihrer Arbeit Activism and Landscape kontrastieren Stuke und Sieber mit Fotografien von Kurita Kaku, der beginnend mit den Studentenprotesten der späten 1960er Jahre politische Demonstrationen in Japan fotografiert hat. Ihren Porträts und der Auseinandersetzung mit den popkulturellen Einflüssen auf Outfits und Auftreten japanischer Jugendlicher stellen Stuke und Sieber die Figur der Geisha aus der Meiji-Zeit gegenüber. Diese Fotografien aus dem späten 19. Jahrhundert stechen noch heute durch ihre Handkolorierung hervor und wurden in Japan in großen Mengen vor allem für den touristischen Markt produziert. In dem Umstand, dass sie vor allem die westlichen Vorstellungen von der japanischen Frau spiegeln und weniger die tatsächliche Realität der sich zu dieser Zeit bereits radikal wandelnden japanischen Gesellschaft darstellen, verweisen sie noch einmal auf die Schwierigkeit, eine fremde Kultur mit Mitteln der Fotografie zu begreifen.
Neben den Arbeiten von Katja Stuke und Oliver Sieber zeigt die Ausstellung Fotografien von Enari Tsuneo, Hosoe Eikō, Ishiuchi Miyako, Kurita Kaku, Kuwabara Kineo, Robert Lebeck, Narahara Ikkō, Takanashi Yutaka, Tamamura Kihei und unbekannten Fotografen aus der Meiji-Zeit.
Fotografie neu ordnen: Japanese Lesson
Katja Stuke / Oliver Sieber
7. Dezember 2018 bis 2. Juni 2019