Exzeptionelles Klangerlebnis: 11.000 Saiten und Kammerorchester bei Wien Modern

Eine noch nie gehörte Klagskulptur lässt Georg Friedrich Haas mit fünfzig mikrotonal zueinander gestimmten Klavieren und Kammerorchester im Wiener Konzerthaus entstehen – eine musikalische, technische und logistische Meisterleistung.

GO ist die Überschrift beim 36. Wien Modern Festival und sorgt für ungewöhnlich viel Bewegung im Raum für Musikerinnen wie Publikum, im weitesten Sinn. Schon zum Auftakt kommt es im Wiener Konzerthaus zum existenziellen Klangabenteuer. Im Großen Konzerthaus-Saal stehen rundherum fünzig Pianinos, das Auditorium ist von Bestuhlung leergeräumt, nur an den Seiten und auf der Galerie gibt es Sitzplätze. Das Publikum darf in Bewegung bleiben, andächtig-leise, versteht sich. Auf einen Schlag setzt Instrumentenklang ein, beginnt fein, wie aus der Ferne hereingewehte Barockmusik, man versucht zu identifizieren: Streicher, Harfe ... ?, und plötzlich eine raumgreifende Klangmasse aus dem Nichts ... Hypnotische, irreale Klangflächen beginnen sich zu drehen, verformen sich ins Dreidimensionale. Zu Beginn versucht man noch zu orten, sieht, dass die jungen Pianistinnen – Studierende des Ludwig van Beethoven Instituts für Klavier der mdw – ein Tablet vor sich haben, in der rechten oberen Ecke der individuelle Einsatz, bemerkt die kleinen Inseln vor den Klavieren mit den Orchestermusikerinnen, jede und jeder hat die digitale Zeitangabe am Notenpult stehen.

Ein Kompositions-Wunderwerk! Georg Friedrich Haas – gebürtiger Grazer, Professor für Komposition an der Columbia University in New York – gilt weltweit als einer der bedeutendsten lebenden Komponisten. Die Idee zu diesem Werk ist mit dem Intendanten des Klangforum Wien, Peter Paul Kainrath, entstanden, der einmal in der chinesischen Klavierfabrik Hailun erlebte, wie hundert fabrikneue Klaviere gleichzeitig über 24 Stunden lang durchgängig von Maschinen gespielt werden, bevor sie das Werk verlassen. Die Klaviermanufaktur Hailun schickte dann tatsächlich 50 Pianinos von der ostchinesischen Hafenstadt Ningbo auf die Reise nach Europa (die Uraufführung war im August in Bozen), in Begleitung von versierten Klavierstimmern, wohlgemerkt.

Fünfzig Klaviere haben 11.000 Saiten, jedes Instrument wurde im Hundertsteltonabstand ge- und mit dem zahlenmäßig adäquaten Kammerorchester abgestimmt. Anlässlich der Uraufführung in Bozen erläuterte Georg Friedrich Haas, dass die Zahl 50 keine einfache Kuriosität sei, sondern eine musiktechnische Begründung habe: "Wenn ein Geiger sein Instrument stimmt, dann stimmt er es nach der Quint. Wenn man ganz genau hinhört, dann sind diese Quinten nicht ganz rein, sondern weichen um den 50. Teil eines Halbtons ab." (Michael Denzer für salto.bz, August 23) Und Haas würde niemandem sagen wollen, was in seinem Stück zu finden wäre, "Es ist nicht so, dass das eine konkrete Geschichte, wie etwa eine Liebesgeschichte oder ein Protest gegen den Klimawandel ist … Aber es ist schon der Aufschrei eines Menschen, der in einer Welt lebt, die aus den Fugen gerät und der in dieser Halt sucht. Auf diesen Punkt, denke ich, kann man das Stück bringen."

Längst ist man in den Sog des Klangraums hineingetaucht, überirdisch verschiebt die Bewegung das Hörerlebnis, oder man hält inne und ist ganz und gar, körperlich mit allen Sinnen, im Banne der Musik. Unbeschreiblich. Man muss es wirklich erlebt haben!

Georg Friedrich Haas: 11.000 Saiten
für 50 im Raum verteilte Klaviere im Hundertsteltonabstand und Kammerorchester, 66 Minuten

Mitwirkende
Klangforum Wien
mit Flöten, Oboe, Klarinetten, Fagott, Horn, Trompete, Posaunen, Akkordeon, Harfe, Celesta, Cembalo, Schlagwerke, Violinen, Viola, Celli, Kontrabass
Und 50 Studierende des Ludwig van Beethoven Instituts für Klavier in der Musikpädagogik der mdw Universität für Musik und darstellende Kunst

Wien Modern Festival "GO | Bewegung im Raum"
vom 31.10. bis 2.12.23
Mit 57 Produktionen, 91 Konzerten, 20 Gesprächen und Workshops ist es das größte Festival für neue Musik in Österreich und eines der größten Ereignisse dieser Art weltweit. Gegründet wurde Wien Modern 1988 auf Initiative des Dirigenten und damaligen Generalmusikdirektors der Stadt Wien, Claudio Abbado, seither findet es jedes Jahr im November statt.