Alle sprechen über Europa. Dennoch kommt ein gemeinsames Europa nur langsam in Gang und auch die Gegenstimmen werden immer lauter. Zu tief sitzen die partikularen Interessen von Nationalstaaten, Wirtschaft und Bürokratie. Viele Menschen weichen vor Veränderungen tendenziell zurück und scheinen sich lieber auf das Vertraute zu verlassen, egal wie verhärtet der Status Quo auch sein mag. Eine gemeinsame Zukunft kann aber nur in einem offenen, kosmopolitischen Zugang liegen, der in einem guten Verhältnis jedes Einzelnen zu lokalen wie internationalen Gemeinschaften steht.
Die Suche nach einer kritischen Balance zwischen Individuum und Gruppe zeichnete bereits die griechische Antike aus, um auf Basis individueller wie allgemeiner Freiheiten und Verantwortungen die Demokratie zu stärken. Das umfangreiche Projekt "Europa: Antike Zukunft" formuliert aktuelle Beiträge zu einer dringend nötigen Diskussion, um aus einer in die Zukunft projizierten Geschichte ein kulturell und politisch gedachtes Europa im Sinne einer "Gleichheit in Differenz" voranzubringen.
Gegenwärtig fehlen Ansätze und Ideen, wie sich Europa und seine Zukunft im Guten lesen lässt. Abseits der bereits hinreichend komplexen aktuellen Lage und ihrer stabilisierenden Mächte liegt das potentiell Neue per se in der Zukunft, die niemand kennt, die sich aber zusehends auf die Vergangenheit und ihre Fiktionen zu beziehen scheint. Diese mögen nicht die schlechtesten sein, sie gilt es im Lichte aktueller Entwicklungen wieder neu zu lesen und möglichst produktiv zu machen, und doch mag für diese "Alte Neue Welt" gelten: Die Macht möge "anderen, guten" Bildern weichen.
Ein interessantes Gedankenexperiment behauptet, dass "die Moderne unsere Antike" sei (T. J. Clark in "Farewell to an Idea: Episodes from a History of Modernism" (1999)). Dabei vergisst man aber schnell, dass auch das Ideengut der klassischen Antike viele utopische Überlegungen bereithält und einiges dazu beitragen könnte, ein zukünftiges Europa zu gestalten. Die Anfänge der Idee von Europa weisen auf die frühen Demokratien der griechischen Antike und ihre Folgewirkungen zurück. Für die Ausstellung haben insbesondere verschiedene Formen des Retro-Futurismus eine besondere Bedeutung, also Zukunftsformen, die auf die Vergangenheit verweisen: Unter Rückgriff auf antike und teils mythologische Konzepte wollen die Veranstalter zum Verständnis Europas beitragen, aus dem Nachdenken über den Status Quo heraustreten und eine mögliche "Perfect Futur" entwerfen. Es geht um den Entwurf einer Utopie, die sich ihrer eigenen Vergänglichkeit bewusst ist und immer schon auf die Vergangenheit verweist. "Europa: Antike Zukunft" ist somit als Experiment zum transnationalen gemeinschaftlichen Leben im europäischen Raum gedacht. Damit möchten die Veranstalter den Fokus auf ein Europa der kulturellen und ideelen Vielfalt konzentrieren, auf ihre historisch komplexe Ausgangslage einlassen und entsprechend der mythologischen Bedeutung der gleichnamigen phönizischen Prinzessin mit "weiter Sicht" vorausblicken.
In Anlehnung an politische und ethische Überlegungen von Aristoteles formuliert die amerikanische Politikwissenschafterin Danielle Allen in ihrem Buch "Politische Gleichheit" (2020) die Forderung nach einer aktualisierten Fassung von Demokratie, ein ausgeglichenes Zusammenleben von Individuen in einer Gesellschaft jenseits eines nationalstaatlichen Denkens. Bereits Aristoteles betonte einen egalitären Zugang zur Gesellschaft, ohne dabei die Autonomie des Einzelnen hintanzustellen. Allen’s Anliegen ist es, ein neues Verständnis von politischer Freiheit und Gleichheit zu entwickeln, in dessen Mittelpunkt die demokratische Partizipation und Selbstermächtigung steht. Sie strebt eine demokratische Stärkung der Frage der Gerechtigkeit an, die Differenz ohne Herrschaft denkt, auf Basis gleicher sozialer und ökonomischer Grundfreiheiten innerhalb einer vernetzten Gesellschaft.
Rund ein Dutzend renommierte Künstlerinnen und Künstler gehen ganz unterschiedlich und doch sehr spezifisch mit der weitläufigen Thematik um, die bei aller Gegensätzlichkeit das Interesse an einem guten Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft zusammenhält, das seit der Antike immer wieder neu formuliert und mit spielerischem Ernst eingeübt werden soll. Dieser theatrale Gestus wird durch seine Bühne unterstützt, der hier in einem aus der (hellenistischen) Spätmoderne entwickelten Gebäude seinen mit Architekturen, Geschichten und Utopien spielenden Nicht-Ort respektive sein Portal "ante futurum" findet, den Grazer "Tempel der Europa".
Die Ausstellung "Europa: Antike Zukunft" arbeitet mit Geschichten und Vorstellungen aus der Perspektive der eingeladenen Künstler_innen, deren Bilder und Werke auf eine Vergangenheit verweisen, die auf unsere Gegenwart und ihre mögliche Zukunft ausstrahlen.
In ihrem mehrteiligen Filmprojekt "Chapters" führt die zypriotische Künstlerin Haris Epaminonda durch einen performativen Reigen von archaisch, nahezu rituell wirkenden Tänzen und Anordnungen, die anhand von aktualisierten Interpretationen Anleihen der antiken Geschichte ihrer Heimatinsel in ein Heute überführt, um ihnen eine konkrete Figur und darin nachwirkende Gestalt zu geben. In der Serie "The Earth, the Temple and the Gods" arbeitet sich der US-amerikanische Fotograf James Welling an den Architekturen der Athener Akropolis und der Agora ab, um den durch den Lauf der Zeit verblichenen Objekten und Skulpturen durch digitale und teils in Vergessenheit geratene analoge Techniken wieder Farbe einzuhauchen, die nicht nur ihnen "unter die Haut geht" und sie zu neuartigem Leben erwecken.
Schließlich macht es die Ausstellung möglich mit "Epiphanie an Stühlen" eine der seit seinem Ableben kaum mehr zugänglichen Skulpturen von Franz West zu zeigen. Der Begriff Epiphanie spielt mit dem uralten Wunsch der Götter angesichtig zu werden, womit der an Ludwig Wittgenstein interessierte West wie mit einem skulpturalen Sprachspiel lustvoll und abwegig arbeitet, und schließlich eine pinke Gottheit viral werden lässt.
"Europa: Antike Zukunft" öffnet ein künstlerisches Format, das Zwischenräume für Austausch, Diskussionen und Gespräche schafft. In der kuratorischen Setzung entsteht so eine fragmentarische Betrachtung von unterschiedlichen Konstruktionen, welche an der europäischen Realität anknüpfen, auf denkbare Zukünfte hinweisen und eine potentiell alternative Ideengeschichte Europas eröffnen. Um dies zu vertiefen und festzuhalten, wird ein umfangreiches Rahmenprogramm unter Beteiligung von wissenschaftlichen Gästen und Künstler_innen angeboten und eine umfassende Begleitpublikation erarbeitet.
Um der Idee Europas wirklich gerecht zu werden, muss diese beweglich bleiben und ständig neu formuliert werden. Es wird Zeit für einen neuen Song for Europe (Roxy Music, Stranded, 1973).
Künstlerinnen und Künstler: Jimmie Durham, Haris Epaminonda, Ira Goryainova, Renée Green, Franz Kapfer, Barbara Kapusta, Jutta Koether, Oliver Laric, Shahryar Nashat, Steven Parrino, Franco Vaccari, James Welling, Franz West
Europa: Antike Zukunft
23. April bis 15. August 2021
Kurator: Sandro Droschl