Erwin Wurm. Bei Mutti

Der österreichische Künstler Erwin Wurm (*1954) war 1987 als Stipendiat des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin. In diese prägende Phase fällt eine grundlegende Veränderung seiner künstlerischen Arbeitsweise: Er beginnt, die Grenzen zwischen Skulptur, Objekt und Performance auszuloten. Erwin Wurm wird nun erstmals in einer monografischen Ausstellung in einem Berliner Museum präsentiert. Die Präsentation in der Berlinischen Galerie stellt zentrale Werkbereiche vor, darunter jüngst entstandene Arbeiten. Im Mittelpunkt steht der menschliche Körper, dessen skulpturales Potenzial und Wurms partizipatorischer Ansatz, den Betrachter zu einem Teil seines Kunstwerkes werden zu lassen.

Ausgangspunkt der Ausstellung "Bei Mutti" ist das "Narrow House", ein Nachbau von Wurms Elternhaus in Bruck an der Mur in der Steiermark, gestaucht auf die Breite von 1,10 Meter. 2011 war dieses surreal anmutende Haus auf der Biennale in Venedig zu sehen. Der Künstler macht das typische Einfamilienhaus mit Satteldach zu einer begehbaren Skulptur, die den Besucher die bürgerliche Wohnkultur der Nachkriegszeit, aber auch die buchstäbliche Enge und Spießigkeit der Provinz physisch erleben lässt. Detailgetreu ausgestattet, inklusive einiger Reproduktionen von Familienfotos, verbindet sich der Besuch des Hauses mit der kollektiven Erinnerung mehrerer Nachkriegsgenerationen, ohne jedoch denunziatorisch zu sein.

In seinen "One Minute Sculptures", die seit 1997 entstehen, fordert Wurm den Skulpturbegriff radikal heraus. Die skulpturalen Interventionen wirken oft wie kleine Theaterstücke: Es handelt sich um Kurz-Performances, bei denen Personen mit Aufgaben und Gegenständen kämpfen, die ihnen der Künstler mittels einer Handlungsanweisung aufgibt. Menschen, die sich in den Ärmeln dicker Wollpullis verlieren, sich in Stuhlbeine verkeilen, die versuchen, sich auf Tennisbälle zu legen oder in grotesker Weise auf einem Sofa zu sitzen, ja mit diesem eins zu werden.

Die "One Minute Sculptures" zeugen von Wurms intensiver Beschäftigung mit Philosophie und verdeutlichen den performativen Ansatz seiner Kunst. Kritische Auseinandersetzungen mit der Kunstgeschichte finden sich ebenso wie sarkastische Kommentare zum Katholizismus und zum zeitgenössischen Körperkult. Ein Dutzend dieser meist auch augenzwinkernden und geistreichen Dramolette ist in der Treppenhalle der Berlinischen Galerie zu erleben. Erwin Wurms theatralskulpturale Rauminszenierungen sind humorvoll, überraschend, skurril – einerseits hintergründig, andererseits mit leichter Hand inszeniert. Lustvolle, sinnliche Werke, die erst durch die Partizipation der Betrachter komplettiert werden.

Die Ausstellung widmet sich mit rund 80 Arbeiten darüber hinaus erstmals ausführlich dem zeichnerischen Werk Erwin Wurms, das vor allem die Entstehung der "One Minute Sculptures" begleitet und ergänzt. Das kleine kompakte Buch "Von Konfektionsgröße 50 zu 54 in acht Tagen" handelt von einem Verwandlungsprozess. Mit knappen Instruktionen, Speiseplänen und Rezepten fordert es uns auf, unser Körpervolumen in acht Tagen um ein beträchtliches Maß zu steigern. Der eigene Körper wird zum skulpturalen Ausgangsmaterial und treibt so die Ansätze aus den "One Minute Sculptures" auf die Spitze. Die Arbeit ist eine Provokation weit verbreiteter Ratgeber zur Körperoptimierung und gängiger Schlankheitsideale. In der Berlinischen Galerie werden die Einzelblätter in einer Vitrine präsentiert.

Der dritte Teil der Präsentation widmet sich skulpturalen Arbeiten, die erst in den vergangenen Monaten entstanden sind. Hier stehen verbeulte Kühlschränke neben riesigen deformierten Telefonen und eingeknickten Sideboards. Diese Werke setzen sich mit der skulpturalen Qualität von Möbeln und anderen Alltagsgegenständen auseinander. Wurm bildet die vertrauten Objekte aus verschiedenen Materialien nach, verfremdet sie aber gleichzeitig durch Größenverschiebungen, Verformungen und Zeichen der Zerstörung. In Bronze oder Polyester gegossen, verändern die Gegenstände ihre ursprüngliche Funktion und Bedeutung.

Gleichzeitig deutet die farbliche Gestaltung auf den Inhalt der zitierten Objekte hin: So beispielsweise das Cremeweiß der Arbeit "Body", eine Bodylotion-Flasche oder die gelbliche Farbe von Butter, die Nachbildung eines Kühlschranks. Dieser spielerische Umgang mit Innen und Außen ist charakteristisch für das Werk Erwin Wurms. Was sichtbar wird, ist eine "de-Form-ation", eine Spannung zwischen der Darstellung von Alltagsgegenständen, ihrer Materialität und den hinterlassenen Spuren von Körpereinwirkungen und -abdrücken.


Zur Ausstellung erscheint im Prestel Verlag ein Katalog mit etwa 80 Abbildungen, der sich hauptsächlich den bisher nur in Ausschnitten veröffentlichten Zeichnungen widmet. (ISBN Museumsausgabe: 978-3-940208-43-9, ISBN Buchhandelsausgabe: 978-3-7913-5545-0)

Erwin Wurm. Bei Mutti
15. April bis 22. August 2016