Es ist ein Bühnenweihfestspiel, so heilig, dass Richard Wagner ein 30-jähriges Aufführungsverbot außerhalb der Bayreuther Festspielhallen auferlegte. An der Wiener Staatsoper löst die musikalische Darbietung unter Dirigent Alexander Soddy alles ein, was der faszinierende wagner´sche Klangkosmos versprechen kann. Die Inszenierung von Kirill Serebrennikov beeinträchtigt jedoch das Erlebnis dieses Gesamtkunstwerks empfindlich, in dem es um Erlösung durch Macht und Zauber der Klänge geht. Wagners "Weltabschiedswerk" – die Uraufführung 1882 überlebte der Komponist nur ein halbes Jahr – wurde von durchaus kritischen Zeitgenossen wie Claude Debussy hochgeschätzt: "Man hört da Orchesterklänge, die einmalig sind und ungeahnt, edel und voller Kraft. Das ist eines der schönsten Klangdenkmäler, die zum unvergänglichen Ruhm der Musik errichtet worden sind."
Kirill Serebrennikov schreibt auch den Inhalt im Programmheft neu, und eine versierte Zuschauerin muss sich schnell noch mit Wikipedia behelfen, damit Musik und Libretto im individuellen Opernerlebnis der Transformation standhalten. Somit kann der Handlung auf der Bühne doch irgendwie gefolgt werden, wenn der Regisseur die Gralsritter in die Haftanstalt Monsalvat verpflanzt: "Der Gral ist, so wie ich ihn verstehe, die Idee der Freiheit ganz allgemein – und genau deswegen ist er in Widerspruch zur Bruderschaft der Gralsgemeinschaft geraten: Die Ritter sind gefangen in ihrer dogmatischen Kampfstellung gegen alles Weltliche. Der Gefängnis-Raum in meiner Inszenierung ist eine Metapher für eine bornierte, zusammengeschrumpfte, dogmatische Welt, in die sie sich selbst eingesperrt haben …"
Gurnemanz – der österreichische Bass Günther Groissböck mit edlem Stimmklang und starkem Ausdruck – ist die graue Eminenz der Bruderschaft. Er sorgt sich um den dahinsiechenden jungen Gralskönig Amfortas – Michael Nagy, überzeugend leidend und verzweifelt –, dem mit seinem eigenen heiligen Speer eine unheilbare Wunde geschlagen wurde. Dadurch ist Amfortas seine rituelle Pflicht der Gralsenthüllung zur Tortur geworden. Gurnemanz ahnt, dass Parsifal der „reine Tor“ sein und die Prophezeiung einer Erlösung erfüllen könnte. Serebrennikov ortet in Parsifal eine kompositorische und dramatische Erinnerungsperspektive und stellt dem Sänger – Daniel Frank war einst Rocksänger, bevor die Opernwelt auf den charismatischen Künstler mit dem großen Tonumfang aufmerksam wurde – in den ersten beiden Aufzügen einen jungen Parsifal – den Theater- und Filmschauspieler Nikolay Sidorenko – zur Seite. Parsifal wird so in personam von seinen Erinnerungen eingeholt, versucht sie zu steuern, zu beschönigen und entdeckt Verdrängtes.
Kundry, hier eine Journalistin mit Sondergenehmigung zum Fotografieren im Gefängnis, bringt Balsam und weiß, dass auch dieser nicht heilen wird, war sie doch selbst Komplizin Klingsors – der belgische Bass-Bariton Werner van Mechelen –, der Amfortas das Leid beibrachte. Die grandiose Elīna Garanča überstrahlt erwartungsgemäß alle, und ihre Rolle als Kundry ist auch – außer den Blumenmädchen – die einzige weibliche. Im zweiten Aufzug auf Klingsors Schloss – er ist ein Medienmogul, der Menschen von sich abhängig macht – ist sie seine ausgelieferte Mitarbeiterin. Kundry soll auch Parsifal verführen, doch bei einem langen Kuss erkennt Parsifal seine Bestimmung und wird "welthellsichtig". Der von Klingsor geschleuderte heilige Speer bleibt über Parsifals Haupte schweben, dieser ergreift ihn, schlägt damit das Kreuzeszeichen, woraufhin Klingsor und sein Zaubergarten der Zerstörung anheimfallen … Bei Kirill Serebrennikov herrscht Tumult, Kundry hat plötzlich eine Pistole und schießt.
"Jede naive Bebilderung würde die subtilen Sinnzusammenhänge von Wagners Partitur vergröbern. Man kann sich die szenischen Lösungen konventioneller Aufführungen für das Wunder des in der Luft stehenbleibenden Speers anschauen … solche Versuche zeitigen alles andere als die gewünschten magischen Effekte", meint der Regisseur und greift im dritten Aufzug zu allen Mitteln um genau diese magische Kraft der unfassbar schönen Karfreitagsmusik zu unterwandern: Parsifal schlendert nach jahrelanger Irrfahrt mit Kapuzensweater und einem Stecken in der Hand zur inzwischen aufgelassenen Haftanstalt. Als er von Gurnemanz erkannt wird, zündet er sich unbeteiligt eine Zigarette an. Die Personenführung ist respektlos, wenn Amfortas geheilt und Parsifal zum Gralskönig gesalbt wird. Weitere Details seien hier ausgespart – Augen zu und nur noch die betörende Musik hören, verinnerlichen. Die Videosequenzen, die im klirrend kalten Winter rund um Moskau und bei einer Beton-Ruine entstanden sind, waren ja schon nach dem ersten Akt in der individuellen Aufmerksamkeit weggeblendet.
Geboten wird fünf Stunden lang gewiss großes wagner´sches Musiktheater! Der britische Dirigent Alexander Soddy – vor kurzem begeisterte er mit Animal Farm (siehe kultur online) – weiß über die Mystik und Einzigartigkeit dieses Werks und bringt Orchester, das ausgewogene Gesangsensemble und den eindrucksvollen Chor zu Höchstleistungen. Tief beeindruckt gehen wir von dannen.
Parsifal
Musik und Text von Richard Wagner
Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen
Musikalische Leitung: Alexander Soddy
Inszenierung, Bühne & Kostüme: Kirill Serebrennikov
Licht: Franck Evin
Regie-Mitarbeit: Evgeny Kulagin
Bühnenbild-Mitarbeit: Olga Pavliuk
Kostüm-Mitarbeit: Tatiana Dolmatovskaya
Video und Fotodesign: Aleksei Fokin, Yurii Karih
Stunt-Choreographie: Ran Arthur Braun
Dramaturgie: Sergio Morabito
Amfortas: Michael Nagy
Gurnemanz: Günther Groissböck
Parsifal: Daniel Frank
Klingsor: Werner Van Mechelen
Kundry: Elīna Garanča
Der damalige Parsifal: Nikolay Sidorenko
Orchester und Chor der Wiener Staatsoper