Ein atemberaubender Mefistofele im Teatro la Fenice

24. April 2024 Martina Pfeifer Steiner —
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Zu Biennale-Zeiten in Venedig auch noch im sagenhaften Teatro la Fenice eine Oper zu erleben – besser geht´s nicht! Und obendrein wurde das relativ unbekannte Werk "Mefistofele" in einer modernen, eindrucksvollen, klugen Inszenierung sowie in höchster musikalischer Qualität dargeboten. Es ist die einzige vollendete Oper von Arrigo Boito (1842–1918), der diese 24-jährig komponierte und sogar schrieb, denn eigentlich ist Boito der Musikwelt als Librettist von Verdis Opern "Otello" und "Falstaff" bekannt.

Nicht Faust oder Margarete – wie bei Charles Gounods Uraufführung fast zehn Jahre früher – sind die titelgebenden Figuren, es ist hier Mefistofele. Für die beiden Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier wird dieser Charakter voller Ironie und schwarzen Humor als witzig, philosophisch, intelligent, provokativ und mit einer äußerst dunklen Vision der Menschheit gezeichnet.

Die Bühne leer und dunkel, Mefistofele stellt sich vor, eine Maske bräuchte er gar nicht, Alex Esposito IST Mefistofele. Zur Ouvertüre stellt er sich unter die Dusche, zwar ohne Wasser, aber nackt, zieht dann den Jogginganzug an, setzt sich in den fetten Polstersessel, im Fernseher die Übertragung einer vatikanischen Feierlichkeit, für uns als Videoprojektion. Der Prolog im Himmel wird so mit Esprit gelöst! Im Hintergrund erklingt der himmlische Chor und deutet schon an, welch fantastische Sequenzen Boito für diesen komponiert hat. Der aus Bergamo stammende Bass-Bariton Alex Esposito ist gefragt auf allen großen Opernbühnen der Welt. Jede Geste, Mimik ist echt, mit List und Trug gibt er satirisch überlegen den Bösen, stimmlich wunderbar, ob einschmeichelnd, ironisch, in kräftigen Tiefen und sicheren Höhen.

"Mefistofele ist eher ein philosophisches Fresko als eine herkömmliche Theaterhandlung", erklärt Patrice Caurier. Die Themen seien universell und nicht auf einen historischen Zeitraum beziehbar, eine Abfolge von Szenen und lauter Möglichkeiten für Mefistofele Faust zu täuschen. Der Osterspaziergang (in Frankfurt am Main) führt Faust und seinen Schüler Wagner zum Fußballstadion, mitten ins ausgelassene Treiben. Zurück im Studierzimmer – ein toller Effekt, wenn die hell erleuchtete, aufgeräumte Box von oben herabgleitet – klopft der unheimliche Gast an. Der Pakt wird geschlossen, Faust – Tenor Piero Pretti singt mit Hingabe – zappt durch das TV-Programm, wir sehen Szenen von Krieg, Katastrophen, Feuerbrünsten … unsere täglichen News!

"Der Mythos Faust hat mich schon immer zutiefst fasziniert", sagt Dirigent Nicola Luisotti, und Goethes Faust sei für ihn ein absolutes Meisterwerk. Wahrscheinlich sei es gar nicht möglich diesen Stoff besser zu vertonen, als es Boito 1868 gelungen ist. Auch die Regisseure halten ihn für einen großartigen Komponisten, ob seiner Kreativität, seiner rhythmischen und harmonischen Erfindungen, er stelle die Musik ganz in den Dienste Goethes Dichtkunst um diese zu vermitteln. 

Der zweite Akt beginnt auf dem Lande, der verjüngte Faust, jetzt Enrico (Heinrich), verführt Margherita, ein scheues Bauernmädchen. Szenenwechsel. Hexensabbat. Berauschend. Sex, Drugs und der Chor rockt die Bühne, in Ektase macht sich Mefistofele selbst zum Weltenrichter, der Theatersaal geht (virtuell) in Flammen auf. "Ridiamo perché il mondo sta bruciando." Dritter Akt, die Vision von Faust ist Realität: Margherita – die Sopranistin Selene Zanetti singt so ergreifend – darf im Gefängnis noch einmal telefonieren. Sie habe die Mutter vergiftet, das Kind umgebracht … Wieder im Studierzimmer. Die Zeit ist vergangen, der alte Faust sinniert über die Suche nach dem vollendeten Glück und begreift dieses als idealen Ort, wo sich die Menschen einfach nur lieben. Er überwindet seinen Schatten und Mefistofele, greift zum Cello und wartet auf den Tod.

Selten so eine aktuell-brisante Aufführung gesehen, die zwar kräftig in die Effekte-Kiste greift, diese aber durchdacht und dem Werk gegenüber so aufrichtig einsetzt. Ein großartiges musikalisches Ereignis im Teatro la Fenice!

Mefistofele 
von Arrigo Boito
Teatro la Fenice, Venedig

Regie: Moshe Leiser und Patrice Caurier
Bühnenbild: Moshe Leiser
Kostüme: Agostino Cavalca
Licht: Christophe Forey
Video: Etienne Guiol
Choreografie Beate Vollack

Mefistofele: Alex Esposito
Faust: Piero Pretti
Margherita: Selene Zanetti
Marta/Pantalis: Kamelia Kader
Elena: Maria Teresa Leva
Wagner/Nereo: Enrico Casari

Orchestra e Coro del Teatro La Fenice
Dirigent: Nicola Luisotti
Chorleitung: Alfonso Caiani
Kinderchor: Piccoli Cantori Veneziani
Chorleiterin: Diana D’Alessio