Die Welt ist kein Märchen

Der Bieler Illustrator und Grafiker Jörg Müller hat wie wenige andere das Medium Bilderbuch zur zeit- und gesellschaftskritischen Auseinandersetzung genutzt. International berühmt wurde er in den 1970er Jahren mit den legendären Bildtafeln "Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder" und "Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran und ewig droht der Baggerzahn".

Das hohe künstlerische Niveau, die Sorgfalt in den Recherchen und das sichere Gespür für politische und gesellschaftliche Entwicklungen haben seine Bücher zu "Klassikern" gemacht, die frei von Zeitgeist und Moden ihre Wirkung auf die erwachsenen und kindlichen Betrachter nie verlieren. Die meisten dieser Bilderbücher sind in enger Zusammenarbeit mit Jörg Steiner entstanden.

Jörg Müller zählt heute zu den bedeutendsten Schweizer Bilderbuchkünstlern. Seine ersten Bildtafeln "Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder" (1974) und "Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran und ewig droht der Baggerzahn" (1976) wurden sogleich zu einem grossen Erfolg und erhielten die wichtigsten nationalen und internationalen Auszeichnungen. Gleichzeitig erschütterten die gesellschaftskritischen Betrachtungen des damaligen Lebensraums die Bilderbuchlandschaft der 1970er Jahre, entsprach diese doch eher noch einer heilen Welt der Ordnung und der Poesie.

Müllers frühe Bildtafeln, welche die grundlegenden Veränderungen einer Landschaft und einer Stadt im 20. Jahrhundert zum Thema haben, waren ihrer Zeit jedoch weit voraus und verblüffen bis heute mit ihrer Aktualität. Insbesondere das rosarote Haus aus "Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder" wurde zu einem international bekannten Symbol, das Eingang in die unterschiedlichsten Medien fand: Zeitschriften, Architekturpublikationen und Bildkataloge aus aller Welt zitierten das Motiv. Dabei ging es Müller nie darum, den Weg vom "heilen, lieblichen Dorf zur bösen, technischen Stadt" aufzuzeigen. Vielmehr versteht er sich als eine Art Chronist, der "weder Moralist noch Lügner" sein will.

Jörg Müller publizierte in den vergangenen dreissig Jahren eine Vielzahl von Bilderbüchern; seine Themenpalette wurde dabei zusehends breiter. Die Geschichten – ab 1974 meist in enger Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Jörg Steiner entstanden – weisen jedoch eine grosse Gemeinsamkeit auf: Sie erreichen alle eine Komplexität, die in der Bilderbuchillustration im Allgemeinen selten anzutreffen ist und alle sind sie Zeugen eines zeit- und gesellschaftskritischen Blicks auf die Welt.

Obgleich sich seine Motive, Städte und Landschaften letztlich in einem fiktiven Raum bewegen, zeichnen sie sich durch eine grosse Realitätsnähe und einen hohen Wiedererkennungseffekt aus. Die atmosphärisch verdichteten Szenerien sind mit einer enormen Sorgfalt und Detailtreue wiedergegeben. Architektur, Landschaft, Plakate, Autos oder auch die Mode entsprechen dabei der jeweiligen Zeit. Gerade für Kinder, sagt Müller, kann man nicht sorgfältig genug arbeiten. Ausgiebige und exakte siedlungsgeschichtliche Recherchen, fotografische oder sonstige bildnerische Vorlagen und eigene Beobachtungen bilden die Grundlage seiner collageartig aufgebauten Wirklichkeit.

Jörg Müllers Skizzen, Fotografien, Zeichnungen, Dokumentationen und Notizen werden in einer Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur in Kombination mit den ausgearbeiteten Originalwerken präsentiert. Auffällig sind dabei eine grosse zeichnerische Brillanz und das hohe künstlerische Niveau. Für jedes Thema sucht er nach einem jeweils adäquaten technischen Mittel: Gouache, lasierendes und pastoses Acryl oder auch Airbrush und verschiedenste Mischtechniken sind Beispiele dafür.

Bis heute entstanden und entstehen eine Vielzahl von Bilderbüchern, die Kinder und Erwachsene gleichermassen ansprechen. Viele dieser Bände sind jedoch inzwischen vergriffen. Die von Inge Sauer in enger Zusammenarbeit mit Jörg Müller konzipierte Ausstellung und Publikation bieten die Möglichkeit, sein reichhaltige Werk wieder öffentlich zugänglich zu machen. Von einigen Bilderbüchern wurden Trickfilmumsetzungen angefertigt, auch diese sind in die Ausstellung im Gewerbemuseum integriert.


Publikation: Inge Sauer (Hg.) "Jörg Müller – Die Welt ist kein Märchen." Skizzen, Illustrationen, Bilderbücher; 2007. Hardcover, 146 Seiten, ca. 320 Abb., CHF 30.-

Die Welt ist kein Märchen
2. September bis 21. Oktober 2007