In extreme Regionen führen die Filme von Werner Herzog immer wieder und im Mittelpunkt stehen extreme Figuren. Das Alltägliche und Gewöhnliche interessiert den 1942 in Bayern geborenen Regisseur nicht. Stets neue Herausforderungen sucht er und verlangt sich und seinen Schauspielern das Äußerste ab. Das Filmarchiv Austria widmet Herzog bis 1. März eine große Retrospektive.
Wenn man nach einem Kontinuum im Werk Werner Herzogs sucht, stößt man unweigerlich auf die Lust am Außergewöhnlichen. Der deutsche Alltag spielt in seinen Filmen keine Rolle, mit dem gesellschaftspolitischen Engagement anderer Vertreter des Neuen Deutschen Films der 60er und 70er Jahre, zu dem er gezählt wird, hat er nichts gemein. Seine Parabel «Auch Zwerge haben klein angefangen» (1970), in der ein Zwergenaufstand scheitert, las man als böse Schmähung der 68er-Bewegung.
Schon in seinem ersten Kurzfilm «Herakles» (1962/65) richtete Herzog den Blick auf Muskelmänner und machte sich über die Bodybuilding-Kultur lustig. Titanische Figuren, die das Unmögliche wagen, standen in der Folge immer wieder im Mittelpunkt seiner Filme. In Klaus Kinski fand er dafür den idealen Hauptdarsteller.
In «Aguirre, der Zorn Gottes» (1972) schickte er Kinski als spanischen Konquistador auf der Suche nach dem sagenhaften Goldland El Dorado in den Amazonas-Dschungel. In der gleichen Gegend ließ er den Opernliebhaber und Abenteurer Fitzcarraldo im gleichnamigen Film (1982) von einem Opernhaus inmitten des Dschungels träumen. Um diese Träume zu verwirklichen, ließ er Fitzcarraldo ein Dampfschiff über einen Berg ziehen - und scheiterte am Ende doch so wie Aguirre. Grandiose Kinobilder sind Herzog dabei vielfach wichtiger als eine zwingende Erzählung.
Alles verlangte er sich und seinen Schauspielern bei diesen Expeditionen ins Ungewisse ab, sodass bei «Fitzcarraldo» die zunächst vorgesehenen Stars wie Jason Robards, Mario Adorf und Mick Jagger der Reihe nach das Handtuch warfen und sich die Dreharbeiten zwei Jahre hinzogen.
Immer wieder suchte Herzog nach unbekannten Gebieten und Herausforderungen. In Brasilien und Afrika drehte er mit «Cobra Verde» (1987) seinen fünften und letzten Film mit Kinski, der darin einen Sklavenhändler spielt, der sich in Afrika zum König ernennt.
Ein plastisches Bild von der konfliktbeladenen Zusammenarbeit mit dem 1991 verstorbenen exzentrischen Star vermittelt Herzogs Dokumentarfilm «Mein liebster Feind» (1999). Zwei Besessene trafen hier aufeinander, die heftige Kämpfe ausführten, aber auch erst durch ihren Wahnsinn und ihre Bedingungslosigkeit das Grandiose möglich machten.
Nach Australien reiste Herzog, um in «Wo die grünen Ameisen träumen» (1984) die mythisch-magische Traum-Zeit der Aborigines mit der technischen Zivilisation zusammentreffen zu lassen. Und in Patagoniens drehte er den Bergfilm «Schrei aus Stein» (1991). Deutlich macht dieser Film Herzogs filmische Wurzeln.
Während die anderen großen Regisseure des Neuen Deutschen Films ihre Vorbilder im Hollywood-Kino fanden - Wenders im Western und bei Nick Ray, Fassbinder in den Melodramen von Douglas Sirk -, berief sich Herzog auf den deutschen Stummfilm. Wie er mit «Schrei aus Stein» an die Bergfilme von Arnold Fanck und Leni Riefenstahl anknüpfte, so erwies er mit seinem Remake von «Nosferatu» (1979) - einem weiteren Film, in dem Klaus Kinski die Hauptrolle spielte - Friedrich Wilhelm Murnau seine Reverenz. Herzog spielt dabei mit der Vorlage, zitiert, variiert und verändert sie und zeichnet vor allem die Figur des Dracula nicht nur als Schreckgespenst, sondern zugleich als bemitleidenswerten Außenseiter.
Dies verbindet diese Figur nicht nur mit anderen genuinen Herzog-Figuren, sondern auch mit dem ebenfalls von Kinski gespielten Woyzeck und dem Findelkind Kaspar Hauser. Mag die Verfilmung (1978/79) des gleichnamigen Dramenfragments von Georg Büchner auch etwas theatralisch wirken, so ist Herzog bei seinem Kaspar-Hauser-Film «Jeder für sich und Gott gegen alle» (1974) ganz bei sich. In beiden Filmen treffen Mensch und Gesellschaft aufeinander, werden gesellschaftliche Regeln hinterfragt, aber was in «Woyzeck» vor allem verbal abläuft, wird in «Jeder für sich ...» in Bilder umgesetzt.
Als Vorstudie für diese Außenseitergeschichten kann der Dokumentarfilm «Land des Schweigens und der Dunkelheit» (1971) angesehen werden, in dem Herzog in die Welt einer Taubblinden eintaucht. Wie im Spielfilm suchte er auch in seinen Dokumentarfilmen immer wieder das Außergewöhnliche. Als ähnlich titanische Figur wie seine Abenteurer zeichnet er den Schweizer Skiflieger Walter Steiner in «Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner» (1974), auf Guadeloupe filmte er unter Lebensgefahr 1976 den Ausbruch eines Vulkans («La Soufrière»), mit Reinhold Mesner dokumentierte er eine Expedition im Himalaya («Gasherbrum – Der leuchtende Berg»), in Kuwait filmte er für seinen heftig umstrittenen Film «Lektionen in Finsternis» (1992) die nach dem ersten Kuwait-Krieg brennenden Ölfelder und 2010 durfte er als einer der ganz wenigen Menschen mit der Kamera in die Chauvet-Höhle in Südfrankreich steigen und phantastische 3D-Bilder von den altsteinzeitlichen Höhlenmalereien mitbringen («Die Höhle der vergessenen Träume»).
Während Herzog im deutschsprachigen Raum in den letzten zwei Jahrzehnten fast in Vergessenheit geriet, nur wenige Filme von ihm in die Kinos kamen, ist er in den USA ein Star. «Time Magazine» erklärte ihn – als einzigen Deutschen neben Angela Merkel – 2009 zu einer der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Unermüdlich dreht er weiter.
Aufsehen erregte dort sein Dokumentarfilm «Grizzly Man» (2005) über den Tierschützer Timothy Treadwell, der 13 Sommer lang mit Grizzlybären in Alaska zusammen lebte, bevor er und seine Freundin Amie Huguenard Anfang Oktober 2003 von einem Bären in ihrem Zelt getötet wurden. Die Londoner «Times» zählt diesen Film zu den fünf besten des vergangenen Jahrzehnts. «Encounters at the End of the World» (2009), in dem Herzog die Antarktis erkundete, wurde für den Dokumentarfilm-Oscar nominiert, und für «Into the Abyss» (2011) und «Death Row» (2012) interviewte Herzog Strafgefangene, die in der Todeszelle auf ihre Hinrichtung warten.
Selten geworden sind freilich in den letzten 20 Jahren seine Spielfilme, umso überraschender fiel dafür sein Remake von Abel Ferraras quälendem Psychogramm "Bad Lieutenant" aus. Herzog, der behauptet das Original nicht zu kennen, legte "Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans" als schwarzen Krimi voll grotesken Momenten an, der nur insoweit an die frühen Herzog-Filme erinnert, als dass er an einem extremen Ort, nämlich dem vom Hurricane Katrina zerstörten New Orleans spielt.
Enttäuschend fiel dagegen Herzogs Biopic über die Schriftstellerin und Forschungsreisenden Gertrude Bell aus, denn "Queen of Desert" (2015) geriet ihm zum kitschigen und langatmigen Wüstenepos, dem der Wahnsinn früherer Filme Herzogs leider völlig fehlt und erfolglos "Lawrence of Arabia" nacheifert.
Auch der in der Salztonebenen Salar de Uyuni im Süden Boliviens "Salt and Fire (2016), in dessen Mittelpunkt eine von Veronica Ferres gespielte Forscherin steht, die eine mysteriöse Umweltkatastrophe untersucht, fiel bei der Kritik großteils durch. - Treu gebliebenen ist Herzog mit diesen Filmen seiner großen Obsession: Dem Vordringen von Europäern in extreme, fremde und lebensfeindliche Regionen.
Werner Herzogs Kurzfilm "Herakles"