Die Schätze der Liao

Zum ersten Mal in Europa wird in einer Ausstellung eine wenig bekannte und bis vor kurzem kaum beachtete Dynastie präsentiert. Dies ist umso erstaunlicher, waren doch die Liao im 11. Jahrhundert die grösste Macht in Ostasien. Ihr Herrschaftsgebiet erstreckte sich über mehr als 4000 km. Es reichte vom japanischen Meer im Osten bis zum Altai-Gebirge im Westen und umfasste die Mongolei und Teile Nordchinas.

Bis nach Europa drangen die Schilderungen über das sagenumwobene Reich der Liao: Marco Polos Name »Catay« für Nordchina geht auf die Kitan zurück, das Gründervolk der Liao-Dynastie. Die Kitan waren einer der vielen nomadisierenden Volksstämme in den Steppengebieten im Norden Chinas. Unter ihrem Anführer Abaoji eroberten sie Gebiet um Gebiet und riefen 907 die Liao-Dynastie aus. Selbst das riesige chinesische Reich der Song fürchtete die kriegerische Macht ihrer nördlichen Nachbarn und musste sich den Frieden durch hohe Tributgaben erkaufen.

Im frühen 12. Jahrhundert drängten jedoch andere Steppenvölker nach Osten vor. Die Liao-Dynastie wurde hinweggefegt, ihre Städte zerstört und ihr Volk zerstreut. Die Kitan verschmolzen mit anderen Völkern, so dass heute ihre ethnische Zugehörigkeit ungewiss ist, ihre Sprache unbekannt und ihre Schrift nicht entschlüsselt. Einzige Informationsquelle über die Liao-Dynastie war lange Zeit die einseitige, von Überlegenheitsdenken geprägte chinesische Geschichtsschreibung. Sie schildert die Liao als minderwertige, barbarische, den Chinesen weit unterlegene Kultur.

Nur die wenigen erhaltenen Bauwerke lassen die Grösse und Pracht des Kitan-Reiches erahnen. Die monumentalen Holzgebäude von grösster Komplexität und die aus Ziegeln gemauerten Pagoden mit reich geschmückten Fassaden von bis zu 70 m Höhe gehören zu den eindrucksvollsten Zeugen der frühen Architektur in China. Das einseitige Bild der Liao-Dynastie wurde durch spektakuläre archäologische Entdeckungen der letzten Jahrzehnte grundlegend revidiert. Die Untersuchungen der riesigen ummauerten Städte und die Ausgrabungen von reich ausgestatteten Gräbern der Oberschicht offenbaren ihre einzigartige und eigenständige Kultur.

200 der schönsten Fundstücke aus den Ausgrabungen der letzten Jahre sind nun im Museum Rietberg in Zürich zu sehen. Sie zeigen, wie die Kitan durch das kreative Verschmelzen ihrer nomadischen Stammestraditionen mit Einflüssen aus dem kaiserlichen China eine hoch stehende und konkurrenzfähige Kultur schufen, ohne jedoch ihre eigene Identität abzulegen. Aufs Schönste lässt sich dies in der prunkvollen Totenausstattung der Prinzessin von Chen (gest. 1018) erkennen. Ihre eindrucksvolle goldene Totenmaske mit individuell herausgearbeiteten Gesichtszügen steht ganz in der nomadischen Bestattungstradition. Ihre silbernen Stiefel, die vergoldete Krone, der Gürtel aus Gold-Plaketten, der glitzernde Kopfschmuck sowie andere Schmuckstücke der Prinzessin sind mit Phönixen und Drachen verziert.

Beide Fabelwesen waren wichtige Herrschaftssymbole der chinesischen Kaiser und wurden von den Liao übernommen. Eine ähnliche Verschmelzung von nomadischen und chinesischen Traditionen zeigt sich am Pferdegeschirr und Gürtelschmuck der Prinzessin. Reich geschmücktes Zaum- und Sattelzeug aus edelsten Materialien deutet auf den hohen Wert der Pferde für die ursprünglich nicht sesshaften Liao hin.

Die Silberschmiedearbeiten der Sattelornamente zeigen jedoch chinesische Handwerkskunst und Motive. Auch der Gürtelschmuck der Prinzessin mit seinen zahlreichen Anhängern erinnert an die Praktik der Reitervölker, alle wichtigen Utensilien am Gürtel zu befestigen und damit immer greifbar zu haben. Aus den ehemals reinen Gebrauchsgegenständen sind im Laufe der Zeit zarte Schmuckanhänger aus wertvollen Materialien geworden. Gleichfalls ahmten die Liao ihre ledernen Wasserbeutel in zerbrechlicher Keramik nach.

Das benachbarte China der Song-Dynastie war sicherlich die wichtigste Inspirationsquelle für die Liao. Von dort wurden hoch spezialisierte Handwerker rekrutiert und feine Seidenstoffe, zarte Keramik und andere Luxusgüter importiert. Handelskontakte pflegten die Liao aber auch mit weit entfernten Ländern. Dies belegen Funde von Jade aus Zentralasien, Glasgefässen aus Syrien und Bernstein von der Ostseeküste.

Auch in ihrem religiösen Leben übernahmen die Liao neue Glaubensvorstellungen von ihren Nachbarn und gaben diesen eine eigenständige Prägung. Die Bedeutung des Buddhismus belegen die zahlreichen Funde in der Spitze der Weissen Pagode in Qingzhou im Osten der Inneren Mongolei. Als wichtigste Weihegabe dienten Abschriften von heiligen Texten, die in aufwändig geschmückten Behältern aus Holz, Silber und Gold verstaut waren und als Reliquien des Buddha galten.

Die hoch angesehenen Äbte der grossen Klöster wurden nach ihrem Tod auf ungewöhnliche Weise beigesetzt. Ihre Asche wurde in der Brust einer lebensgrossen, als Ersatzleichnam fungierenden Holzpuppe deponiert. Die Holzpuppe wurde bekleidet und mit reichen Beigaben ausgestattet in einem Grab beigesetzt, das wie ein unterirdischer Wohnraum gestaltet war. Damit gelang den Liao die Verbindung von eigentlich unvereinbaren Überzeugungen wie der buddhistischen Forderung nach Kremation mit der chinesischen Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod im unversehrten Körper. Eine dieser ergreifenden Figuren ist in der Ausstellung zu sehen.

Alle Stücke dieser Ausstellung stammen aus dokumentierten archäologischen Ausgrabungen in der Autonomen Region Innere Mongolei in der Volksrepublik China. Nach Ende der Ausstellung, die zuvor in der Asia Society in New York und im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln zu sehen war, wird ein Teil der Objekte im neu erbauten Museum von Hohhot, der Hauptstadt der Inneren Mongolei, permanent zu sehen sein.


Schätze der Liao
Chinas vergessene Nomadendynastie (907–1125)
13. Mai bis 15. Juli 2007