Die reisenden Ahnentafeln des Gernot Riedmann

Gernot Riedmann arbeitet seit den 1990er Jahren an einem großen Zyklus zum Thema Ahnen. Mit einer Motorsäge schneidet er religiöse oder mythologische Motive in Holztafeln, die er zur Fertigstellung an befreundete Künstlerinnen und Künstler aus dem In- und Ausland gibt. Sie interpretieren und überarbeiten die Tafeln ohne jegliche Vorgabe. 65 Arbeiten zeugen mittlerweile von Riedmanns weltumspannender sozialer Skulptur.

Gernot Riedmann (*1943 in Barcelona) verbrachte seine Kindheit in der katalanischen Hauptstadt, ehe die Lustenauer Auswandererfamilie im Jahr 1950 in die Marktgemeinde zurückkehrte. Nach seiner Ausbildung bereiste er als Stickerei-Exportleiter die ganze Welt. In den Hauptstädten Europas interessierte sich Riedmann für Museen und Galerien und begann als junger Mann trotz Geldnot, eine Kunstsammlung aufzubauen. Im globalen Süden entdeckte er seine eigentliche Leidenschaft, die afrikanische „Stammeskunst“. Und wurde selbst zu einem Künstler.

Malte Riedmann anfänglich auf seinen Reisen oder bei längeren Auslandsaufenthalten, begann er ab Mitte der 1980er Jahre seine Ideen in eine skulpturale Form zu bringen. Erst mit Hilfe von Freunden in Stein und Stahl, Mitte der 1990er Jahre will er selbst Hand anlegen. Als Material kommt nur der Werkstoff Holz in Frage, den er durch die Auseinandersetzung mit der afrikanischen Stammeskunst kennen- und lieben gelernt hat. Und so beginnt er damit, großformatige Skulpturen und Relieftafeln aus Holz zu schneiden. Als Werkzeug dient ihm eine Motorsäge, das Atelier ist sein Lustenauer Garten. Sämtliche seither entstandenen Arbeiten aus Holz sind Teil des Großen Ahnenzyklus.

Anders als bei den Ahnentafeln indigener Völker oder in der afrikanischen Stammeskunst hat Riedmanns Ahnenzyklus nichts Kultisches an sich. Der Künstler versteht seine Skulpturen als Hommage an alle Vorfahren, auf denen unsere moderne Kultur gründet. Seine Motive sind der griechischen Mythologie oder der christlichen Tradition entlehnt. Diese schneidet er in Holztafeln und übergibt sie zur weiteren Bearbeitung an befreundete Künstler:innen – ohne jegliche Vorgabe. Der erste Empfänger war übrigens Heinz Greissing (1933–2020), der ihn auch auf diese Idee brachte.

Es folgten seine Landsleute Uta Belina Waeger, Alfred Graf, Uwe Jäntsch, Tone Fink und Gottfried Bechtold. Beglückt von den Reaktionen und Ergebnissen beginnt Riedmann, seine Ahnentafeln erst in Österreich, dann in ganz Europa und schließlich in immer fernere Regionen der Erde zu verschicken. Bis heute wurden insgesamt 65 seiner Ahnentafeln überarbeitet und an den Künstler retourniert. Allein die Anekdoten über die verschlungenen Wege mancher Tafeln würden ausreichen, ein ganzes Buch zu füllen, erzählen sie doch von Bekanntschaften, fremden Kulturen, Eigenheiten wie Eitelkeiten der vielen eindrucksvollen Persönlichkeiten, die Riedmann über die Jahre weltweit kennengelernt hat.

Es ist beispiellos in unserer individualisierten Gesellschaft, dass ein Künstler sein Werk zur Vollendung in fremde Hände legt und darauf vertraut, im Gegenüber einen Verbündeten zu haben, der das Projekt zu einem guten Ende führt. Gernot Riedmann hat sich viele Male auf dieses Wagnis eingelassen. Es hat ihm interessante Begegnungen und tiefgreifende Erfahrungen ermöglicht. Am ehesten lässt sich sein Zugang mit dem Anspruch indigener Völker vergleichen, demzufolge Kunst nie allein aus ästhetischen Gründen entsteht, sondern stets ein größeres Ganzes anstrebt. Aus 65 individuell gestalteten Ahnentafeln wird am Ende eine weltumspannende soziale Skulptur, die allen teilnehmenden Künstler:innen denselben Raum und somit dieselbe Bedeutung beimisst: egal ob männlich oder weiblich, jung oder alt, volkstümlich oder akademisch, ob aus dem globalen Süden oder dem reichen Norden, ob Roma oder Mongole, ob Christ oder Moslem. Ein interkultureller Dialog auf Basis einer kreativen Zusammenarbeit. Ein tröstliches Signal in Zeiten, in denen Identitätsdebatten immer schärfer geführt werden.

Gernot Riedmann. Ahnentafeln auf Reisen
26. April bis 23. Juni 2024 im Atrium des Vorarlberg Museums
Vernissage: Freitag, 26. April um 17.00 Uhr, mit einer Einführung von Kuratorin Kathrin Dünser

Begleitprogramm
Do, 2. Mai, 18.00 Uhr
Gernot Riedmann und Kuratorin Kathrin Dünser geben einen Einblick in die Entstehung der aktuellen Ausstellung im Atrium.

Do, 23. Mai, 18.00 Uhr
Kathrin Dünser spricht mit der Kuratorin und spirituellen Heilarbeiterin Isabella Marte über die Bedeutung traditioneller Ahnenkulte in schamanischen und animistischen Kulturen.

Do, 23. Mai, 19.00 Uhr
Präsentation Ausstellungskatalog Gernot Riedmann. Ahnenzyklus auf Reisen mit einem Künstlergespräch

Do, 20. Jun, 18.00 Uhr
Gernot Riedmann spricht mit der Schriftstellerin Monika Helfer über die Bedeutung der Ahnen in ihrem Werk