Den Zuschauer verunsichern und irritieren: Mindfuck-Filme

Bis in die 1990er Jahre galt im Kino "Seeing is Believing". Die Figuren mochten Lügengeschichten erzählen, innerhalb der Geschichte konnte man den Bildern aber vertrauen. In den letzten 20 Jahren wurde der Zuschauer aber immer öfter düpiert. In den Filmen von David Lynch verschwammen die Realitätsebenen, in surreale Welten entführten Spike Jonze und Michel Gondry. Das St. Galler Kinok widmet diesen so genannten "Mindfuck"-Filmen sein heuriges Open-Air-Programm.

Heftig kritisiert wurde Alfred Hitchcock, als er 1950 in "Stage Fright" ("Die rote Lola") einen Mörder in einer Rückblende eine Geschichte erzählen ließ, die sich später als Lüge erwies. Ein unterschiedlicher Blick von verschiedenen Figuren auf Ereignisse, wie er sich in Welles´ "Citizen Kane" oder Kurosawas "Rashomon" findet, war zwar erlaubt, doch den Zuschauer mit den Bildern in die Irre zu führen, ihm eine Lüge aufzutischen, war verpönt.

Umgangen hat Hitchcock dieses "Lüge-Verbot" in "Vertigo"(1958), indem er an der Oberfläche realistisch erzählt, andererseits aber auch die Möglichkeit offen lässt, dass die ganze Filmhandlung nur ein Traum des von James Stewart gespielten Detektivs ist. Träume und Realität verschwimmen dagegen in "8 1/2" ("Otto e mezzo", 1963), in dem Federico Fellini autobiographisch von einer künstlerischen Krise erzählt.

Vorläufer der so genannten "Mindfuck"-Filme kann man darin sehen, zu einer echten Bewegung werden sie aber erst in den 1990er Jahren. Ihr Kennzeichen ist, dass durch nicht-lineares Erzählen, scheinbar unzuverlässige Standpunkte und radikale Handlungswendungen der Zuschauer verunsichert und in Spannung versetzt wird.

In Bryan Singers "The Usual Suspects" (1995) erzählt ein Kleinkrimineller in einem Polizeibüro munter drauf los, doch schließlich wird klar, dass er alles nur angeregt von Fotos, die an den Wänden hingen, erfunden hat. Neu sehen muss man auch M. Night Shyamalans "The Sixth Sense" (1999) vom Ende her, wenn der Film förmlich vom Kopf auf die Füße gestellt wird.

Ein konventioneller Film noir könnte Christopher Nolans "Memento" (2000) sein, doch indem der Brite die Handlung konsequent rückwärts erzählt, fordert er große Aufmerksamkeit und permanentes Mitdenken. Wie der Protagonist, der seit dem Mord an seiner Frau nur noch über ein fragmentarisches Kurzzeitgedächtnis verfügt, muss der Zuschauer Stück für Stück die Puzzleteile zusammenfügen.

Mit einer verschachtelten Rückblendenstruktur arbeitet auch Pedro Almodovar immer wieder, beispielsweise auch in "Los abrazos rotos – Zerrissene Umarmungen" (2009). Förmlich blind, wie der Schriftsteller Harry, ist der Zuschauer zunächst und erst langsam klären sich in dieser Dreiecksgeschichte über Harry, der einst Filmregisseur war, einen Industriellen und eine Schauspielerin (Penelope Cruz) die Zusammenhänge.

Fügen sich die Einzelteile bei "Memento" und "Los abrazos rotos" am Ende zu einem Gesamtbild und einer schlüssigen Geschichte, so tauchen David Lynch und David Cronenberg immer wieder in Abgründe ab oder warten mit plötzlichen Handlungsumschwüngen auf, die dem Zuschauer den Boden unter den Füßen wegziehen. Nie aufgelöst werden die Täuschungen und die Irritation, die die Endlosschleifen von Traum, Imagination und Realität sowie die Auflösung einer linearen Chronologie in Lynchs "Lost Highway" (1996) auslösen.

Kaum zu entschlüsseln ist auch David Cronenbergs Adaption von William S. Burroughs Roman "Naked Lunch" (1991), denn der Kanadier vermischt Elemente aus Burroughs Biographie und dem Roman zu einem surrealen filmischen Trip. Kühn konstruiert ist auch "Reconstruction" (2003), in dem der Däne Christoffer Boe in Wiederholungen und verschachtelt, aber auch in atmosphärischen Bildern, die in ihrer Eleganz an Wong Kar-Wai erinnern, von der Liebe erzählt.

Dem düsteren Ton dieser Film stehen die surreal-überdrehten Filme von Spike Jonze und Michel Gondry gegenüber, die auch entscheidend von den Drehbüchern von Charlie Kaufman geprägt sind. Die Verblüffung und Irritation entsteht bei "Being John Malkovich" (1999) und "Eternal Sunshine of the Spotless Mind" (2004) weniger durch das Aufbrechen traditioneller Erzählstrukturen, als vielmehr durch surreale Einfälle und eine überbordende Fantasie.

So gibt es bei "Being John Malkovich" im Halbstock eines Bürogebäudes eine Tür, durch die man in das Gehirn des berühmten Schauspielers John Malkovich gelangt, 15 Minuten später aber wieder hinausgeschleudert wird und seltsamerweise neben einer Schnellstraßenausfahrt im Straßengraben landet.

Nicht nur in diesem Film, sondern auch in Michel Gondrys "Eternal Sunshine of the Spotless Mind" lässt Drehbuchautor Charlie Kaufmann absurdeste Dinge mit größtem Ernst und Selbstverständlichkeit geschehen. Statt in den Kopf eines Stars kann man hier in die Erinnerungen des von Jim Carrey gespielten Protagonisten reisen, kann an seinem Liebesglück und Liebesschmerz teilhaben und ihn begleiten, wenn er letzteren durch einen Eingriff, bei dem Teile der Erinnerung gelöscht werden, zu beseitigen versucht.

Gegenpol zu diesen durch ihren Surrealismus irrwitzigen Filmen bildet Woody Allens "Zelig" (1983), der wie eine echte Dokumentation daher kommt, aber ein Spielfilm ist. Fiktiv ist auch die Titelfigur, die bei zahlreichen bedeutenden Ereignissen zwischen 1920 und 1935 dabei war und wie ein menschliches Chamäleon sich stets an seine Umwelt anpasste. Offen bleibt so einerseits die Frage, wer dieser Zelig denn wirklich ist, andererseits wirft diese Satire im Spiel mit dem Dokumentarischen die Frage nach dem Realitätsgehalt "echter" Dokumentarfilme auf.

Gemeinsam ist den Mindfuck-Filmen nicht nur, dass sie quer zum Mainstream-Kino stehen und einen geistig aktiven Zuschauer verlangen, sondern auch, dass sie mit ihrem Mut zum Risiko zeigen, dass das Kino auch ganz andere und aufregendere Wege als den des linearen Erzählens beschreiten kann, dass die abgründigen und überdrehten Welten des menschliches Geistes aufregender sein können als ferne Galaxien und dass diese Kunstform nicht von materiellem Aufwand, sondern von befreitem Fabulieren und überbordender Fantasie lebt.

Trailer zu "Being John Malkovich"