Immer wieder werde ich in meiner Lektüre konfrontiert mit provokativen Fragestellung hinsichtlich Literatur und Gesellschaft, Rolle des Schriftstellers, Wahrheit und Dichtung, Kultur, Kunst und konkrete Gesellschaftsprobleme. Wie kann jemand Literatur schreiben oder genüsslich lesen, wenn in seinem Land Krieg herrscht oder bei den Nachbarn? Wenn er im Exil sich verdingen muss?
Erst kürzlich hörte ich die erstaunte Frage einer österreichischen Radiosendungsmoderatorin an eine moldawische Schriftstellerin, wie sie denn in ihrer Heimat schreiben könne, wo es doch so schlimm zugehe. Demgegenüber las ich über Neuerscheinungen palästinensischer Schriftsteller, die unter ungleich schlimmeren Zuständen schreiben. Obwohl der Realitätsdruck die schriftstellerische Arbeit einfärbt und beeinflusst, wie jede andere künstlerische auch, da niemand in einer isolierten Laborsituation lebt, auch bei uns nicht, schreiben Autorinnen und Autoren mehr als nur Dokumentarisches oder direkten Leidensausdruck.
Wie legitim ist es, in Zeiten wie diesen, sich Schöngeistigem hinzugeben, Fiktionen zu kreieren, die träumerisch-positiv sind? Darf Kunst, so verstanden, als nicht-realistische, nicht anklagende, höchstens persönlich über Leiderfahrungen sich äusserende, gemacht und wertgeschätzt werden? Oder soll, wie früher von Lenin propagiert und von Stalin zur Hochblüte gebracht, das Diktat der Realität und des Realismus die erzieherische Aufgabe des Schriftstellers leiten? Soll der Wert seiner Werke an der realistischen Konkretheit (wieder) gemessen werden?
Diese Fragen sind alt und werden immer wieder gestellt. Sie berühren auch einen Problemkomplex, der nicht nur Schreibende, seien es Schriftsteller, Journalisten oder Wissenschaftler betrifft, sondern auch Leser. Sind das Schreiben und Lesen, ist der Kunstgenuss nur möglich um den Preis eines Wegsehens, einer Filterung, eines Wegschiebens gewisser Probleme und Ereignisse? Vergesse ich die Welt und ihre Kriege, wenn ich mir ein Musikstück anhöre? Klar, für den Moment. Für höchst menschliche, positive Haltungen und Handlungen ist es aber Voraussetzung, das bewusste Denken auszuschalten, weil es störte. Z.B. beim Geschlechtsakt. Wer seinen analytischen Verstand nicht zu zügeln vermag, kann kein Poem geniessen, weil das kritische Denken, das immer Distanz schafft, die nötige Nähe nicht erlaubt, die die Gedichtlektüre, soll sie »adäquat« erfolgen, fordert. Manchmal ist es in der Kunst wie in der Liebe: Nähe ist Bedingung für Erfüllung.
Das ist kein Selbstwert. Wir leben nicht eindimensional und nicht nur in einer Situation und Rolle. Wir wechseln. Reif ist, wer zur rechten Zeit richtig handelt, das heisst einerseits, hier das störende Aussen fernhält, damit das Intime, Zarte sich entfalte, andererseits dort Distanz einnimmt, ohne die keine Reflektion (als Antipode zur Spontanäität) möglich wäre, kein Räsonnieren, kein Nach- und Überdenken, keine Kritik. Konkrete Handlungen schliesslich leben von einem kontrollierten Mischverhältnis von Distanz und Nähe, Intention und Unwillkürlichkeit. Wird eines der Felder übermächtig, zeigen sich »Störungen« (Triebtäter, Zorn, Gefühlsüberwall oder abstrakte Kälte die auch zur konkreten Inhumanität führen kann).
Also ist Kunst und Kultur möglich, auch wenn Krieg herrscht. Ich meine, Kultur ist dann sogar noch nötiger, um das Humane zu retten oder, wenn es gesellschaftlich vernichtet wurde, es wieder zu errichten.
Das Ganze hängt auch von Dauer und Intensität ab. Wer dauernd wegsieht, kann nichts mehr erblicken, was ausserhalb des engen Gesichtsfeldes liegt. Er hört auch nicht mehr die Schreie der Opfer, wenn er permanent sich mit ausgesuchtem Audioprogramm umspült oder nur seinen bekannten Sagern (Rednern) sich zuwendet. Wer in seiner Voururteilswelt sich bequem einrichtet, wird auch in direkter Konfrontation nichts Fremdes, Ungewöhnliches, Besorgniserregendes wahrnehmen, weil seine Erwartungshaltung, sein Wahrnehmungsvermögen degeneriert oder extrem borniert ausgerichtet sind.
Viele wollen aber nicht hören und sehen, was es zwischen den Zeilen zu lesen gäbe, zwischen den Pausen zu hören. Weil es belastet. Irritiert. Stört. Oder, weil es den Schmerz der Ohnmacht vertieft. Je mehr jemand weiss, je heller und wacher jemand ist, desto stärkere Energien muss er aufwenden, um diesen Ohnmachtsschmerz zu meistern, ohne dabei wegzusehen, abzustumpfen, zu resignieren.
Ich weiss, fast überall herrscht Krieg. In fernsten Fernen, in nächster Nähe. Es wird gefoltert, vergewaltigt. Menschen werden gejagt wie Hasen. Zuschanden getrieben wie Ungeziefer. Verkauft als Sklaven, verbraucht wie Ausschussware. Was kann ich tun? Was tue ich? Wählen? In Österreich, in Europa. Wen? Genügt das? Ich beteilige mich an einigen Projekten, ich spende, ich spreche, ich schreibe. Ist das genug? Wann ist es genügend? Müsste ich aktiv werden, als Widerstandskämpfer, die heute leicht Terroristen werden, und wenn sie es auch nicht sind, dann als solche stigmatisiert werden? Wo soll ich was tun? Hier in Österreich? In anderen Mitgliedsstaaten der Union, wo es noch schlimmer zu geht? Geht es bei uns denn schlimm zu? Ist das nicht kokett, angesichts wirklich schlimmer Situationen, wie eben z.B. in Palästina? Oder in Tschetschenien. Oder im Irak, in Afghanistan, im Iran, in Myanmar, im Sudan, im Kongo und was weiss ich wo noch.
Wie fremd bin ich in meinem eigenen Land? Wie eigen ist meine Sprache? Wen erreiche ich durch Reden und Schreiben? Wer versteht mich? Verstehe ich die andern, wie sie verstanden werden wollen und sollen? Welche andern?
Meine Welt ist weit. Ich schalte nicht am Gartenzaun ab oder an den Landesgrenzen. Der Krieg dort, ist zwar nicht meiner, aber er empört mich, er trifft mich. Die Folter, ob sie in Frankreich geübt wird oder in Saudi Arabien, in Russland oder Irland oder Israel oder Amerika, lässt mich nicht kalt. Was tue ich? Leserbriefe schreiben, Kolumnen, Artikel? In Gesprächen mit dazu äussern? Wiederhole ich mich nicht? Lächeln viele nicht ob meines échauffements?
Auch wenn es aussichtslos scheint, absurd, finde ich es unabdingbar zu sagen, was man sieht, zu warnen und zu fordern, wenn es notwendig scheint. Seien dies Vorkommnissen hier oder dort, Freund oder Feind.
Bei uns werden, in Gemeinschaft mit der Union, Bürgerrechte systematisch aufgehoben, zurückgestutzt, unterminiert. Der Polizeistaat wird erstarkt und ausgebaut. Rechtsgrundsätze werden auf den Kopf gestellt. Und fast alle, zumindest der sogenannten »Entscheidungsträger«, machen mit. Aufrufe für Widerstand werden nicht breit debattiert, sind verurteilt, eine marginale, leise, »unrealistische« Stimme zu bleiben. Mit geschürter Terrorhysterie und Angst vor Kriminalität erlaubt sich der Staat kriminell vorzugehen. Plötzlich rechtfertigt ein kleines Sicherheitsproblem Präventivhaft. Heute trifft es Hoologans. Morgen Schwarze, dann Zigeuner. Dann?
Waffenschieber und Kriegsgewinnler werden in einem einseitig extrem ausgelegten Datenschutzverständnis staatlich geschützt, während die elektronische Kommunikation überwacht wird, die Betreiber jetzt verpflichtet werden, mindestens ein halbes Jahr (in anderen Unionsländern noch länger!) die Daten zu speichern, um gegebenenfalls der Behörde Zugang zu gewähren und Nachforschung zu ermöglichen. Es gibt also weder ein Fernmeldegeheimnis, wie es früher eines gab, und schon gar keines für den Internetverkehr. Im Gegenteil, jeder ist zuerst verdächtig, bis zur Klärung und Approbation durch den Staat. Ein Horror baut sich auf. Und ganz wenige ziehen die sich aufdrängenden Vergleiche zum Nazismus und Stalinismus, die damals, bedingt durch die simplere Technik, noch kruder und umständlicher sich ihre Opfer vornahmen.
Ich will nicht übertreiben. Vorerst geht es »nur« um Überwachung und Haft und nicht Folter oder Hinrichtung. Aber immer hat sich der Ungeist unkontrollierter Staatsmacht, wie er sich barbarisch in solchen antibürgerlichen, inhumanen Massnahmen anmeldet, leise und unauffällig eingenistet und breitgemacht. Es braucht nicht viel Fantasie um sich auszumalen, wie rasch Szenarien konstruiert und programmiert werden können, die dann ein schlimmeres Losschlagen der Staatsgewalten über Polizei und Militär »rechtfertigen«. Wir, Europa, sind auf dem schlechtesten Weg zu einem staatsterroristischen, inhumanen Regime.
Noch verzichte ich nicht auf meine Lektüre, meine Musik, mein Schreiben. Noch spreche ich mit Freunden und Bekannten nicht nur über Politik, Kampf, Krieg und Flucht. Aber ich vergesse es nicht. Ich komme immer wieder, wie hier, darauf zurück. Nicht weil ich Lust daran hätte, sondern weil die bösen, kriminellen Machenschaften es mir aufdrängen, es erzwingen. Schweigen hiesse Mitmachen. Ich erinnere mich des Satzes »Wo Unrecht Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.« Trotzdem freue ich mich, nach wie vor, an Mozart oder Bach, Klee oder Alaa al-Aswani. Auch an Nelly Sachs oder der Achmatova, an näheren und Ferneren. Damit all das möglich bleibt, müssen wir, ich und du, manchmal, andere Sätze denken und sagen. Wenn das nicht reicht, werden wir mehr tun müssen, als nur reden.