Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise.

Planet in der Krise. Die Erde in der Notaufnahme. Der menschengemachte Klimawandel droht den Planeten unbewohnbar zu machen. Ökologische und soziale Katastrophen bestimmen den Alltag im 21. Jahrhundert. Die Lage ist kritisch, und dominiert von den Interessen des Kapitals sind Architektur und Urbanismus in die Krise verstrickt. Doch es geht auch anders, wie die Ausstellung „Critical Care“ anhand von 21 aktuellen internationalen Beispielen zeigt, darunter erdbebensichere und nachhaltige Dorfentwicklung in China, Überschwemmungsschutz durch traditionelle CO2-arme Bautechniken in Pakistan und Bangladesch, die vielfältige Umnutzung modernistischer Bauten in Brasilien und Europa, ein ökologischer Community Land Trust in Puerto Rico, die Revitalisierung historischer Bewässerungssysteme in Spanien, neue Konzepte für öffentliche Räume und durchmischte Quartiere in Wien, London und Nairobi. Die Ausstellung „Critical Care“ beweist, dass Architektur und Urbanismus dafür sorgen können, den Planeten „wiederzubeleben“ – verweist der Begriff „Critical Care“ doch auf beides, die Intensivstation und das Sorgetragen. Die Reparatur der Zukunft hat begonnen.

Der Kapitalismus hat zu einem neuen Erdzeitalter geführt, dem Anthropozän, auch als Kapitalozän bezeichnet. Es geht darum, das Anthropozän „so kurz/so dünn wie nur möglich zu halten und miteinander auf jede vorstellbare Art und Weise kommende Epochen zu kultivieren“, wie die Philosophin Donna Haraway schreibt. Die von Angelika Fitz und Elke Krasny kuratierte Ausstellung „Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise“ ist ein Plädoyer für eine Architektur des Sorgetragens. Die 21 Fallbeispiele demonstrieren, dass Architektur und Stadtentwicklung sich nicht dem Diktat des Kapitals und der Ausbeutung von Ressourcen und Arbeit unterwerfen müssen. In jedem der Projekte werden die Beziehungen zwischen Ökonomie, Ökologie und Arbeit neu bestimmt. Das erfordert neue Allianzen, auch zwischen top-down und bottom-up. Akteur*innen des Sorgetragens in Architektur und Urbanismus kommen auch aus Stadtverwaltungen, NGOs, der Zivilgesellschaft, internationalen Organisationen oder nachhaltig orientierten Unternehmen. Viele Wissenssorten tragen neben den Planungsdisziplinen zu Architektur und Urbanismus des Sorgetragens bei, wie Anthropologie, Soziologie, Umweltwissenschaften, Rechtswissenschaften, Landschaftsplanung, Kunst und andere mehr.

Sorgetragende Zusammenarbeit ist immer konkret. Ausgangspunkt für Erhaltung, Fortsetzung und Reparatur des Planeten in der Krise sind die je spezifischen lokalen Verhältnisse. Dies zeigt die Ausstellung anhand von konkreten Situationen: Überschwemmungsgebiete in Pakistan, fehlende Infrastrukturen für geflüchtete Menschen in Jordanien, Weiternutzung der Architekturmoderne in Europa und Brasilien, Erdbebengebiete in China, von Hurrikans und Gentrifizierung bedrohte informelle Siedlungen in Puerto Rico, Überflutungen und Umweltverschmutzung in Kenya, von globalen Developern dominierte Stadtentwicklung in London.

Die Ausstellung veranschaulicht die Projekte mit großformatigen Bilderzählungen, Modellen und Objekten. Filme und kurze Videos vermitteln Hintergründe zu den Entstehungsprozessen und lassen die vielfältigen Akteur*innen zu Wort kommen. Verbindende Analyseraster ermöglichen die Vergleichbarkeit und zeigen Zusammenhänge zwischen den Fallbeispielen aus mehreren Kontinenten.

21 Beispiele des Sorgetragens in Architektur und Urbanismus für das 21. Jahrhundert

Die Ausstellung „Critical Care“ versammelt 21 architektonische und urbanistische Projekte aus Asien, Afrika, Europa, dem Nahen Osten, der Karibik, den USA und Lateinamerika und gruppiert sie entlang von fünf Feldern des Sorgetragens: Sorgetragen für Wasser sowie Grund und Boden, Sorgetragen für den öffentlichen Raum, Sorgetragen für Fertigkeiten und Kenntnisse, Sorgetragen für Reparatur, Sorgetragen für lokale Produktion. Jedes der 21 Fallbeispiele arbeitet an konkreten Problemen, sei es im städtischen oder ländlichen Raum, und bestimmt gleichzeitig auf einer prototypischen Ebene die Verhältnisse zwischen Arbeit, Ökonomie und Ökologie neu.

Sorgetragen für Wasser, Grund und Boden

  • Urbana, das Architekturbüro von Kashef Mahboob Chowdhury, hat beim Friendship Center in Gaibandha, Bangladesch, auf kostenaufwändige Aufschüttungen als Überflutungsschutz verzichtet und mit dem Wasser, nicht gegen dieses gearbeitet.

  • Ciclica und Cavaa, zwei Architekturkollektive aus Barcelona, haben gemeinsam mit dem Gartenverein das brachliegende römische Bewässerungssystem im spanischen Caldes de Montbui reaktiviert und die Kleingärten öffentlich zugänglich gemacht.

  • Enlace in San Juan, Puerto Rico, hat in einem mehrere Jahre dauernden Prozess von über 700 Konsultationen Grund und Boden, auf dem sich die informellen Siedlungen in nächster Nähe zum Financial District befinden, in einen Community Land Trust verwandelt und die ökologische Reparatur des Martin Pena Kanals vorangetrieben.

  • Estudio Teddy Cruz + Fonna Forman erarbeitet für das Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko grenzübergreifende ökologische Konzepte und neue Vorstellungen von Grenz-Staatsbürger*innenschaft.

  • Colectivo 720 hat im kolumbianischen Medellin riesige modernistische Wasserspeicheranlagen in einen neuen, sicheren öffentlichen Raum für die benachteiligten Nachbarschaften verwandelt.

Sorgetragen für Reparatur

  • Die Architekten de vylder vinck taillieu haben in Melle aus der Ruine eines SpitalsPavillons einen großzügigen öffentlichen Raum für Patientinnen, Besucherinnen, Pflanzen und Tiere geschaffen.

  • Paulo Mendes da Rocha und Mmbb Architekt*innen haben ein modernistisches Kaufhausgebäude in São Paulo in ein soziales Kultur-, Sport- und Gesundheitszentrum umgebaut, das natürlich ventilierte öffentlich zugängliche Räume bietet, mit Swimmingpool auf dem Dach.

  • Lacaton & Vassal haben gemeinsam mit Frédéric Druot und Christophe Hutin einen modernistischen Großwohnbau saniert, dabei dessen Qualitäten konsequent fortgesetzt und um großzügige Wintergärten und Balkone erweitert.

  • Zusammenkunft, eine breite Allianz aus zivilgesellschaftlichen Stadtmacherinnen, transformiert gemeinsam mit der Stadtverwaltung und Architektinnen am Berliner Alexanderplatz das ehemalige Haus der Statistik aus DDR-Zeiten in ein gemeinwohlorientiertes Stadtquartier mit leistbarem Wohnen, Kultur, Bildung und dem „Rathaus von Morgen“.

Sorgetragen für Fertigkeiten und Kenntnisse

  • Rural Urban Framework hat nach schweren Erdbeben und Erdrutschen in der chinesischen Provinz Sichuan in Zusammenarbeit mit der lokalen Regierung in Jintai ein Modellprojekt für eine nachhaltige Dorfentwicklung realisiert.

  • Architektin Yasmeen Lari bildet mit ihrer Heritage Foundation „Barefoot Entrepreneurs“ darin aus, in traditioneller Lehm- und Bambusbauweise flutbeständige Häuser und Infrastrukturen zu bauen. Über 40.000 sichere, kostengünstige und äußerst CO2-arme Gebäude wurden seit 2012 realisiert.

  • Emergency Architecture & Human Rights Eahr aktiviert gemeinsam mit Bewohner*innen und geflüchteten Menschen in der Nähe des Za’atari Flüchtlingslagers in Jordanien traditionelle Baumethoden zur Errichtung von Schulen.

  • Anapuma Kundoo verwendet für ihr Volontariat Home für obdachlose Kinder in Pondicherry alte persische Lehmbautechniken, bei denen das Gebäude selbst zum Brennofen und somit zum Materialproduzenten wird.

Sorgetragen für den öffentlichen Raum

  • muf architecture/art hat bei der Planung von Ruskin Square den privaten Developer des Londoner Stadtteils Croydon davon überzeugt, für den neuen Masterplan vom öffentlichen Raum auszugehen.

  • Die Stadtverwaltung in Barcelona gibt mit der Einführung des Superblock Modells den Menschen den Straßenraum zurück, verbunden mit einer Reduktion des privaten Verkehrs um 21 Prozent.

  • StudioVlayStreeruwitz hat für das Stadtentwicklungsgebiet am Wiener Nordbahnhof ein Leitbild entwickelt, das vom Vorhandenen ausgeht, anstatt Tabula rasa zu machen. Die Freie Mitte mit ihrer urbanen Wildnis setzt natürliche, kulturelle und soziale Ressourcen fort. 2017 hat das von Angelika Fitz und Elke Krasny kuratierte Projekt „Care + Repair“ mit sechs internationalen Architekturteams im Tandem mit lokalen Expert*innen an der Reparatur der Zukunft für die Freie Mitte gearbeitet. Die daraus resultierende Ausstellung war die erste kulturelle Nutzung der Nordbahnhalle, Teil des dreijährigen von der TU Wien geleiteten Forschungsprojekts Mischung:Nordbahnhof.

Sorgetragen für Produktion

  • atelier d’architecture autogérée arbeitet in französischen Städten an dem Modell R-Urban, Netzwerken von öko-zivilen Stützpunkten, die auf geschlossene Kreislaufwirtschaft setzen.

  • Die Kounkuye Design Initiative entwickelt gemeinsam mit Grassroots Organisationen produktive öffentliche Räume in Kibera, Nairobi, um ökologische Anliegen, sanitäre Einrichtungen, lokale Alternativ-Ökonomien und Sicherheit miteinander zu verbinden.

  • Architektin Anna Heringer hat gemeinsam mit der Modemacherin Veronika Lena und der NGO Dipshika die lokale Textilproduktion im Dorf Rudrapur in Bangladesh aufgebaut, das Handelsflüsse zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden umkehrt: aus alten Saris werden Designprodukte.

  • Architekt*in Xu Tiantian hat für den Bezirk Songyang in China eine Reihe von zusammenhängenden Interventionen zur Stärkung des ländlichen Raums entworfen; so die Tofu Fabrik in Caizhai, die gleichzeitig Produktionsstätte, öffentlicher Raum und touristischer Anziehungspunkt ist.

Publikation:

Anlässlich der Ausstellung erscheint bei MIT Press „Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet“, herausgegeben von Angelika Fitz, Elke Krasny und Architekturzentrum Wien. Das Buch enthält alle 21 Case Studies sowie 12 Essays von internationalen Autor*innen zu den Themen Arbeit, Ökonomie und Ökologie in der Architektur.
ISBN 978-0-262-53683-7
300 Seiten
Preis: EUR 38,80

Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise
25. April bis 9. September 2019