Die nächste Ausstellung im Kunstraum Remise ist der jungen türkischen Fotokünstlerin Cansu Yıldıran gewidmet, die es mit ihrer Arbeit laut der kuratierenden Künstlerin Luka Berchtold schafft, die Tiefe der menschlichen Seele auf eine berührende und authentische Weise darzustellen.
Cansu Yıldıran wurde 1996 in Istanbul geboren. Noch während ihres Kleinkindalters zog die Familie in die bergige Region im Nordosten der Türkei. Ihre Mutter stammte aus Trabzon und laut der Künstlerin besuchte die Familie jeden Sommer das Städtchen Çaykara im inneranatolischen Hochland, in dem zutiefst konservative, fast schon stammesähnliche Strukturen vorherrschten. Noch im jugendlichen Alter verließ Yıldıran diese Region und lebt und arbeitet seither wieder in der Metropole am Bosporus. Von dieser Herkunft und der Erfahrung geprägt, der Heimat bereits als Jugendliche den Rücken gekehrt zu haben, ist die fotografische Erforschung der menschlichen Identität und des individuellen Selbst zum Kernpunkt ihrer Arbeit geworden, wobei sie sich vor allem ihren engsten Freund:innen, die in queeren Gemeinschaften leben und in Istanbul eine Randgruppe bilden, widmet. Das wird auch im Rahmen ihres Projektes „Shelter“ evident, von dem sie markante Beispiele in Bludenz präsentiert. „Shelter“ steht dabei für die Suche nach Schutz und Zuflucht.
Die Arbeit am Projekt „Shelter“ erfolgte parallel zu Yıldırans Engagement in der Dokumentarfotografie-Szene Istanbuls und der Welt des Reportagewesens. Ihre damaligen Fotodokumentationen berichteten über die aufgeladenen Proteste, die die türkische Gesellschaft im letzten Jahrzehnt erschütterten. So etwa über die Arbeiter:innenproteste nach dem Grubenunglück von Soma, über den Aufstand auf dem Gezi-Platz in Istanbul, den Aufstieg virulenter extremistischer Sekten, den Bürgerkrieg mit Kurdistan sowie über den enormen Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien und letztlich auch über das zunehmende Aufbegehren einer Generation von freiheitsliebenden jungen Türk:innen, die entschlossen sind, dem populistischen Autoritarismus von Präsident Recep Tayyip Erdoğan entgegenzutreten.
In ihrer tagebuchartig wirkenden Fotodokumentation der türkischen LGBTQ+-Community, wie sie in „Shelter“ zum Ausdruck kommt, reflektiert Yıldıran über die vielschichtigen Aspekte, die sowohl die innere Welt der Protagonist:innen als auch die breitere Szene prägen. Die Bilder sind gleichsam auch ein Aufschrei gegen die unterdrückenden Kräfte, die seit den 2000er Jahren im Land wirksam wurden, als das neue konservative Regime gewählt wurde, das das „soziale Andere“ verstärkt ins Visier nahm. Künstlerin Yıldıran, die in dieser Zeit aufwuchs, wurde sich immer mehr bewusst, dass sie nicht in das heteronormative Narrativ passt, das von der Gesellschaft so bereitwillig und in breiter Front akzeptiert und für gut befunden wurde, und sie fand letztlich in der queeren Community ihr eigentliches Zuhause und den Ort, den sie zur persönlichen Entfaltung benötigte.
Ihre Fotografien der „Shelter“-Serie vermitteln in der Tat so etwas wie Schutz, Geborgenheit und Intimität. Aber auch Fremdsein und Verlorenheit spiegeln sich darin wider. Sie bezieht sowohl offene als auch performative Posen ein, um die Würde und Schönheit der Dargestellten im Bild einzufangen und darzustellen. Sie greift auch auf die Schwarz-Weiß-Technik zurück, um die Beziehung der Protagonist:innen zur Umwelt auszubreiten und überlappt diese mit Schichten düsterer Symbolik und Verbindungen. Die Art und Weise etwa, wie ein junger Mann mit gespreizten Beinen auf einer mit wilder Vegetation bewachsenen Klippe hoch über dem Ozean liegt, verströmt den Eindruck einer melancholischen Verlassenheit. Ein Hund, von dem nur die Hälfte zu sehen ist, da er aus dem Bild läuft, verstärkt diesen Eindruck.
Obwohl sie noch nicht einmal dreißig Jahre alt ist, stieß das Schaffen Yıldırans bereits auf große internationale Anerkennung. So wurde die Fotokünstlerin etwa 2018 für die World Press Photo Joop Swart Masterclass ausgewählt. 2021 erzielte sie den ersten Platz in der Kategorie „Resistance“ des All Out Photo Award, einem globalen LGBTIQA+ Online-Aktivismus-Netzwerk, präsentiert von MTV. Die Gewinnerfotos wurden während der Pride auf dem Times Square in New York, der World Pride in Kopenhagen und in Ausstellungshäusern auf der ganzen Welt gezeigt. 2022 erhielt Cansu Yıldıran den Women Photograph Project Grant sowie 2024 den FOAM Fotografiemuseum Amsterdam Talent Award. Cansu hat ihre Werke in zahlreichen Museen und Fotofestivals ausgestellt, darunter im Pera Museum, im Odunpazarı Modern Museum, im Elgiz Museum, beim Arles Photography Festival und beim Verzasca Foto Festival. Ihre Fotografien wurden im Visa Pour I’Image, dem British Journal of Photography, dem Dazed Magazine und The Guardian gedruckt. Yıldıran erhielt ein einjähriges Mentoring von Nicole Tung.
Cansu Yıldıran: Shelter
13. September bis 31. Oktober 2024
Eröffnung: 12. September, 20.00 Uhr