Bärenkandidaten dringend gesucht!

Nach Halbzeit der 61. Berlinale gibt es mit dem iranischen Beitrag "Nader and Simin, A Separation" nur einen echten Favoriten auf den Goldenen Bären. Ralph Fiennes Regiedebüt "Coriolanus" erwies sich als ziemlich überflüssig, interessanter ist da schon Ulrich Köhlers "Schlafkrankheit".

Als Regiedebüt hat sich der Schauspieler Ralph Fiennes gleich eine Adaption von Shakespeares Tragödie "Coriolanus" vorgenommen – und spielt selbstverständlich selbst die Hauptrolle. Zwar lässt Fiennes die Handlung im alten Rom spielen, verpackt dieses aber in moderne Kulissen.

Geblieben ist somit der Konflikt zwischen Volskern und Römern, in dem Coriolanus zum Kriegsheld aufsteigt, nur wird hier nicht mit Streitwagen und Schwertern gekämpft, sondern die Truppen rollen in gepanzerten Wagen an, im Straßenkampf werden Panzerfäuste und Maschinengewehre eingesetzt und TV-Schlagzeilen informieren die Politiker sowie Mutter, Frau und Sohn des Gaius Martius, der nach der erfolgreichen Schlacht um die Stadt Corioli den Beinamen Coriolanus erhalten wird, über das Kampfgeschehen.

Wie in den Actionfilmen eines Paul Greengrass zieht die unruhige Handkamera den Zuschauer mitten hinein ins Geschehen, und treibende Musik puscht die Dramatik zusätzlich auf. So packend allerdings der Beginn auch ist, so erweist sich Fiennes" Ansatz doch auf Dauer als nicht tragfähig. Denn mit dem modernen Outfit bekommt dieses Drama um einen Feldherrn, der an seinem eigenen Stolz scheitert und erst durch Bitten seiner Mutter vom Kriegszug gegen das eigene Land abgehalten werden kann, noch lange nicht Aktualität. Vor allem Haltung lässt Fiennes vermissen, fokussiert auf keinem Aspekt der Tragödie, sondern inszeniert scheinbar teilnahmslos vom Blatt weg. Mit zunehmender Distanz folgt man so dem Geschehen, weil zudem von den Schauspielern einzig Vanessa Redgrave als Coriolanus" Mutter einen differenzierten Charakter zu zeichnen vermag.

Weit ungewöhnlicher – und damit auch interessanter – ist da schon Ulrich Köhlers "Schlafkrankheit". Köhler erzählt von einem deutschen Arzt, der seit Jahren mit seiner Frau in Afrika ein medizinisches Projekt betreut, jetzt aber in die Heimat zurückkehren soll. Je näher der Tag der Abreise kommt, desto weniger kann sich der Arzt aber mit dem Gedanken an Heimkehr in ein ihm inzwischen fremdes Land anfreunden.

Unvermittelt bricht der Film ab und setzt nach einer Schwarzblende mit einem in Paris geborenen Arzt kongolesischer Abstammung neu ein. Er soll in Kamerun im Auftrag der WHO das Projekt des deutschen Arztes evaluieren. Vor Ort findet er aber nur ein fast leeres Krankenhaus und auch der Arzt scheint sich ihm zu entziehen. Klar wird bald, dass drei Jahre seit der den Film eröffnenden Handlung vergangen sind, dass der Arzt nie in seine Heimat zurückgekehrt ist, sich dagegen immer mehr in Afrika verloren hat und gerade ein Kind von einer Afrikanerin bekommt.

Köhler, der als Kind selbst mit seinen Eltern in Afrika lebte, spricht Korruption, Missbrauch von Subventionen, aber auch sexuelle Ausbeutung an, rückt den Blick aber vor allem auf das Fremdsein im anderen Land und den daraus resultierenden Verlust der Orientierung. Dies betrifft nicht nur den deutschen, sondern auch den französischen Arzt.

Köhler erzählt zwar realistisch, setzt aber immer wieder Leerstellen, die vieles offen lassen, und lässt den Film auch irritierend enden, wenn der deutsche Arzt während einer Jagd im nächtlichen Dschungel verschwindet. Gerade in diesem nicht Ausformulierten, Vagen und die Phantasie des Zuschauers anregenden bleibt "Schlafkrankheit" lange über sein Ende hinaus im Kopf haften.

Der einzige echte Bärenkandidat ist aber nach 10 der 16 Wettbewerbsfilme Asghar Farhadis "Nader and Simin, A Separation". Am Beginn steht die Scheidung von Nader und Simin, die sich trennen, da sie ausreisen will, er aber im Iran bleiben will, um sich um seinen an Alzheimer leidenden Vater zu kümmern. Nach der Trennung muss Nader für seinen Vater eine Pflegerin anstellen, die aber mit der Aufgabe hoffnungslos überlastet ist. Als Nader mangelnde Fürsorge für den Vater feststellt, kommt es zwischen ihm und der Pflegerin zu einem Streit und einem Unfall, der beide vor Gericht führen wird.

Unklar bleibt für den Zuschauer lange, was wirklich passiert ist. Kein Urteil fällt Farhadi dabei, sondern lässt den Zuschauer bei dieser packenden Wahrheitssuche immer wieder schwanken und seine Position wechseln. Wie hier ein Rädchen ins andere greift, wie jedes Detail Bedeutung hat und wie ausgewogen die Gegner und ihre Argumente beleuchtet werden, ist zweifellos ein dramaturgisches Meisterstück. Nie wirkt das spröde, sondern von Anfang an reißt diese ganz aus dem Alltag gegriffene Geschichte dank agiler Kamera, die immer nah an den Figuren ist, präzisen Dialogen und hervorragenden Darstellern mit.

Ganz nebenbei bekommt man dabei einen Einblick in den Alltag des gehobenen Bürgertums von Teheran, aber auch in die Not der Unterschicht. Da geht es schließlich auch nicht mehr nur um objektive Wahrheit, sondern auch um die Frage, ob soziale Not vielleicht sogar eine Lüge moralisch rechtfertigen und auch und vor allem um eine Absage an eine Rechtssprechung, die unbarmherzig nach Paragraphen Entscheidungen trifft, ohne sich im geringsten für die Menschen zu interessieren.