Auf der Seeseite der Kunst

In der Umgangssprache der Thurgauerinnen und Thurgauer war mit "Seeseite" bis in die 1980er-Jahre hinein die unmittelbar am Bodenseeufer gelegene Irren- oder Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen gemeint, während man das landseitig gelegene Kantonsspital Münsterlingen mit seinem offiziellen Namen nannte. Erst als die Institution um 1980 in Psychiatrische Klinik umbenannt, baulich vollkommen erneuert und in vielerlei Hinsicht geöffnet wurde, verschwand der Euphemismus "Seeseite" nach und nach.

2015 feiert die Klinik ihr 175-Jahr-Jubiläum. Aus diesem Anlass veranstaltet sie zusammen mit dem Staatsarchiv des Kantons Thurgau in Frauenfeld und dem Museum im Lagerhaus in St. Gallen eine Ausstellung mit historischen Arbeiten von Patientinnen und Patienten aus Münsterlingen, begleitet von einem Katalog. Nicht soll, wie bei Jubiläumsaktivitäten sonst üblich, auf die Verwaltungsgeschichte das Augenmerk gelegt werden, sondern auf die Kunst der Münsterlinger Klinik.

Basis sind die Ergebnisse des SNF-Forschungsprojektes "Bewahren besonderer Kulturgüter" zur Sammlung Münsterlingen, die im Staatsarchiv Thurgau aufbewahrt ist. In den Krankenakten von sech-zehn PatientInnen fanden sich insgesamt 249 Zeichnungen, die zwischen 1894 und 1960 entstanden sind. 100 Exponate von elf KünstlerInnen werden nun zum ersten Mal ausgestellt. Vor allem die beiden Psychiater Hermann Rorschach, 1909-1913 als Assistenzarzt, und Roland Kuhn, 1939-1980 als Oberarzt und später Direktor in Münsterlingen tätig, legten Zeichnungen beiseite und ermutigten manche Patienten zu zeichnen. Ergänzt werden die Werke von 24 Patientenarbeiten aus dem Nachlass Hermann Rorschach, heute in Archiv und Sammlung Hermann Rorschach der Universitätsbibliothek Bern. Das Museum im Lagerhaus folgt damit zum dritten Mal dem Anliegen, "Verborgene Schätze aus Schweizer Psychiatrien" öffentlich sichtbar zu machen und dem Publikum erstmalig vorzustellen.

Die Schwierigkeiten eines ebenso fachgerechten wie ethisch vertretbaren Umgangs mit historischer Patientenkunst beschreibt Staatsarchivar André Salathé in seinem Katalaogbeitrag "Die Kunst der Archivare". Überliefert sind uns die Werke als Bestandteil der Krankenakten. Seit ihrer Entstehung changieren sie je nach Zeit, Gesellschaftsnormen und persönlicher wie fachspezifischer Betrachtung in ihrer Bewertung zwischen "Aktenmaterial" und "Kunst". Und bis heute kontrovers ist die Frage, ob man die Anonymisierung zum Schutz beibehalten soll oder ob diese den Kunstschaffenden die Identität raubt.

Welche Bedeutung hatte das Kunstschaffen in der Klinik für die Patientinnen und Patienten? In welcher Form haben sie sich künstlerisch geäussert? Und welche Bedeutung hatten die entstandenen Werke für die behandelnden Ärzte? Mit Hermann Rorschach ist ein künstlerisch-kreatives Interesse gegeben. Seit 1939 – dem Eintritt Roland Kuhns in die Klinik – wurde in Münsterlingen der berühmte Rorschach-Test mit allen klinischen und ambulanten Patientinnen und Patienten durchgeführt. Für die Patientinnen und Patienten scheint das Zeichnen geradezu eine Strategie des Überlebens gewesen zu sein, die ihnen die Möglichkeit bot, etwas "Brauchbares" zu erschaffen, wie es der Künstler Franz Sch. ausdrückte, einen Raum der Selbstgestaltung zu behaupten, wie Meta Anderes, oder um einfach, wie Rose G.-T., etwas Abwechslung in ihrer Zelle zu haben.


Katalog zur Ausstellung: "Auf der Seeseite der Kunst. Werke von Patientinnen und Patienten der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen 1840–1940". Herausgeber Katrin Luchsinger, André Salathé, Gerhard Dammann, Monika Jagfeld. Zürich, Chronos, 2014.

Auf der Seeseite der Kunst
175 Jahre Psychiatrische Klinik Münsterlingen
2. Dezember 2014 bis 8. März 2015